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Pharmig: Diagnoseprozesse bei seltenen Erkrankungen beschleunigen

Was den Weg zur Diagnose bei seltenen Erkrankungen beschleunigt: mehr Vernetzung von Expertise, verknüpfte Datenbanken und künstliche Intelligenz.

Für Patientinnen und Patienten mit einer seltenen Erkrankung dauert es erfahrungsgemäß durchschnittlich fünf Jahre, um eine klare Diagnose zu erhalten. In manchen Fällen lässt sich die Erkrankung auch gar nicht diagnostizieren, weil sie noch nicht beschrieben wurde. Eine Diagnose ist jedoch die entscheidende Voraussetzung, um eine Therapie oder soziale Leistungen zu erhalten. Auch um an klinischen Studien teilnehmen zu können, um innovative Therapien in Entwicklung zu bekommen und zur Erforschung der Erkrankung beitragen zu können, ist eine Diagnose die erste Bedingung. Was alles helfen könnte, sowohl auf nationaler wie internationaler Ebene, um den Weg bis zur richtigen Diagnose für Betroffene zu verkürzen, thematisierten Expertinnen und Experten im Rahmen des 11. Rare Diseases Dialogs der PHARMIG ACADEMY.

„Bei seltenen Erkrankungen handelt es sich sehr oft um chronische Erkrankungen, die allmählich beginnen und immer komplexer werden. Oft haben sie einen schweren und lebensverkürzenden Verlauf und sind mit Invalidität verbunden. Die rasche Diagnose ist daher dringend nötig. Vor allem, um den degenerativen und fortschreitenden Verlauf der Erkrankung so früh wie möglich zu stoppen und nicht mehr umkehrbare Schäden erst gar nicht entstehen zu lassen. Aber auch aus Schutz vor falscher belastender Therapie und unnötiger Diagnostik, die auch nicht zu vernachlässigende Belastungen für das Gesundheitssystem darstellen. Rein spezialistische Diagnosen ohne das Zusammenführen und gemeinsame Besprechen der Erkenntnisse aus den einzelnen Fachgebieten enden oftmals in der Sackgasse“, erklärt Medizinalrat Dr. Reinhold Glehr, der als Allgemeinmediziner im steirischen Hartberg praktiziert. Dabei können die Symptome ein und derselben seltenen Erkrankung völlig unterschiedlich sein.

„In den letzten zwanzig Jahren hat sich die molekulare Medizin sehr weiterentwickelt. Man weiß mehr über genetische Ursachen und kann sie nachweisen. Aber heutzutage muss man Diagnosekriterien neu anlegen“, sagt Privatdozentin Dr. Sylvia Boesch, Koordinatorin des österreichischen Zentrums für seltene Bewegungsstörungen in Innsbruck, und ergänzt: „So besteht ein Syndrom aus mehreren Symptomen, über die ein Patient berichtet. Aber deren Ursache liegt oft woanders. Dieses Spannungsfeld zwischen klinischer Medizin und Molekularmedizin macht die Diagnose für Ärztinnen und Ärzte herausfordernd.“ Dennoch müsse es laut Boesch die oberste Maxime bleiben, Klarheit zu schaffen und eine rasche Diagnose anzustreben, um damit beispielsweise auch das Vertrauen der Bevölkerung in das Gesundheitssystem zu stärken.

Als größte Hürde auf dem Weg zur Diagnose sehen die Podiumsteilnehmenden, wenn Betroffene die Angehörigen der Fachärzteschaft einzeln aufsuchen müssen, und damit keine interdisziplinäre Besprechung und Diagnosestellung möglich ist. „Die Europäischen Referenznetzwerke zeigen uns vor, wie das funktionieren kann. Dort gibt es gemeinsame virtuelle Besprechungen von Expertinnen und Experten, die sich zum Beispiel zu einem aktuell schwierigen Fall beraten können. Das sollte auch auf österreichischer Ebene institutionalisiert werden“, schlägt Mag. Dominique Sturz von der PatientInnen-Organisation Pro Rare Austria vor. Dem schließt sich auch Frau Dr. Boesch als Koordinatorin eines österreichischen ERN-Vollmitglieds an.

So wie sich die Expertisezentren auf europäischer Ebene vernetzen, sollten auch Spezialistinnen und Spezialisten in Österreich ihr Wissen bündeln, bestätigt Mag. Gerhard Embacher, Leiter der Gruppe Gesundheitssystem im Bundesministerium für Soziales, Gesundheit, Pflege und Konsumentenschutz: „Diagnose darf kein Zufall sein. Die Spur, die zu einer seltenen Erkrankung führt, muss gefunden werden können. Das geht aber nur, wenn das Bewusstsein für und das Wissen über diese Erkrankungen so breit wie möglich gestreut werden.“ Das grundsätzliche Wissen aber auch wo man dafür spezielle Unterstützung erhalten kann, müsse laut Embacher „bei jenen Ärztinnen und Ärzten ankommen, die von Betroffenen aufgesucht werden.“ Die Basis dafür wurde mit der Erhebung und Designation der österreichischen Expertisezentren geschaffen. Seit einigen Jahren nehmen nun österreichische Zentren mit entsprechender Expertise an den diversen Europäischen Referenznetzwerken (ERN) teil.

Ist auch nach eingehender Konsultation keine klare Diagnose möglich, kann Betroffenen in Zukunft die Aufnahme in einem sogenannten „Undiagnosed Diseases Programm“ helfen. „Eine solche Anlaufstelle wäre für Patientinnen und Patienten vorgesehen, die langfristig undiagnostiziert sind und die typischerweise eine komplexe und seltene Erkrankung haben. Dabei wird jeder einzelne Befund erhoben und miteinander vernetzt. Denn jeder Baustein kann später zu einer richtigen Diagnose führen“, erklärt Dr. Ursula Unterberger, Fachärztin für Neurobiologie und Mitarbeiterin bei Orphanet sowie Projektbetreuerin beim Nationalen Büro für Seltene Erkrankungen. Kann im Rahmen des Programms trotzdem keine Diagnose gestellt werden, liegt es in vielen Fällen daran, dass die entsprechende Erkrankung noch nicht von der Medizin entdeckt wurde und eine Zuordnung daher noch nicht möglich ist.

Künstliche Intelligenz kann die Suche beschleunigen. Das Programm Screen4Care ist ein von der EU gefördertes Forschungsprojekt für eine schnellere Diagnosefindung. Das Projekt, in dem Betroffene, Angehörige, Medizinerinnen und Mediziner, aber auch Mitglieder des Gesundheitssystems direkt in die Forschung eingebunden werden, entwickelt neuartige Formen der Datenanalyse, die digitale Technologien einsetzen, um mögliche Patientinnen und Patienten schneller zu identifizieren. Neben Neugeborenen-Screening und lernfähigen Algorithmen wird das Projekt auch einen neuartigen Symptom-Checker sowie eine virtuelle Klinik für Betroffene und medizinisches Personal entwickeln.

„Das Prinzip des dezentralen ‚federated machine learning‘ kann dabei helfen, statistische Wahrscheinlichkeiten wie Symptomcluster oder Krankheitssequenzen zu identifizieren, und somit zu einer rascheren Diagnose beitragen“, erklärt Dr. Steph Grohmann vom Open Innovation in Science (OIS) Center der Ludwig Boltzmann Gesellschaft, welches das Projekt als eine von 35 Partnerorganisationen aus Privatwirtschaft und universitärer Forschung unterstützt. Das Projekt ist bis 2026 angelegt und soll gezielt Menschen mit seltenen oder undiagnostizierten Erkrankungen helfen. Interessierte können sich direkt an das das OIS Center der Ludwig Boltzmann Gesellschaft wenden.

Unisono spricht sich das Podium für die Etablierung eines Undiagnosed Diseases-Programm mit entsprechenden Leitlinien in Österreich aus. Um diesen Prozess so schnell wie möglich voranzutreiben, sei es wichtig, alle bereits bestehenden Strukturen zu nützen und entsprechend zu rüsten, damit lange Wartezeiten für Patientinnen und Patienten mit seltenen Erkrankungen in Zukunft reduziert und im besten Fall vermieden werden. Erforderlich dafür seien entsprechende Ressourcen und Leistungsverrechnungsmöglichkeiten in diesen neuen Anlaufstellen.

Der Rare Diseases Dialog der PHARMIG ACADEMY, moderiert von Mag. Tarek Leitner, fand virtuell im Mai mit 185 Teilnehmenden statt. Ein kurzer Film über die Veranstaltung ist hier abrufbar.

Über die PHARMIG ACADEMY:

Die PHARMIG ACADEMY ist das Aus- und Weiterbildungsinstitut der PHARMIG, des Verbands der pharmazeutischen Industrie Österreichs. Sie bietet Seminare, Lehrgänge und Trainings zu allen Themen des Gesundheitswesens. Das Angebot orientiert sich an aktuellen Entwicklungen und richtet sich an alle, die Interesse am Gesundheitsbereich haben bzw. darin tätig sind. Das Format des Rare Diseases Dialog bietet allen Betroffenen, Interessierten und relevanten Akteuren eine offene Diskussionsplattform zu aktuellen Themen im Bereich der seltenen Erkrankungen.

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