LISAvienna: MDR-Verschiebung und IVDR-Fahrplan – Alles auf Schiene?

Diese Frage wurde im Rahmen unserer LISAvienna Regulatory Konferenz für Medizinprodukte und In-vitro Diagnostika am 17. Oktober 2023 im Apothekertrakt, Schloss Schönbrunn, diskutiert. Die zentrale Botschaft für innovative Unternehmen und Start-ups, die zukünftig Zertifizierungen nach MDR und IVDR anstreben: Einige Benannte Stellen haben im Moment Kapazitäten für Neukunden - ergreifen Sie diese Chance!

Philipp Hainzl und Johannes Sarx, Geschäftsführer von LISAvienna, erinnern sich an die siebte LISAvienna Regulatory Konferenz, bei der sich Top-Expert*innen in Wien zum Austausch trafen: „Die Veranstaltung übertraf alle unsere Erwartungen. Gemeinsam mit mehr als 40 Vortragenden durften wir rund 400 Interessierte im Apothekertrakt in Schönbrunn mit den neuesten Informationen versorgen. Wir freuen uns, dass es in Zusammenarbeit mit en.co.tec und LISA – Life Science Austria gelungen ist, die Konferenz wieder kostenlos anzubieten. Dadurch hatten Start-ups und KMUs eine niederschwellige Option, sich mit dem aktuellen Stand bei den rechtlichen Anforderungen an den Markteintritt vertraut zu machen.“ Viel Anklang fand die Podiumsdiskussion am Vormittag – hier fassen wir einige Diskussionspunkte für Sie zusammen.

Kurzzeitig Raum für Neukunden vorhanden

Harald Rentschler, Geschäftsführer mdc medical device certification GmbH, berichtete im Rahmen der Diskussion, dass die Anzahl der Anfragen von Herstellen an Benannte Stellen signifikant zurück gegangen ist, nachdem die MDR-Fristverlängerung veröffentlicht wurde. Er warnte aber ausdrücklich davor, sich jetzt zurückzulehnen und abzuwarten. Diese Haltung bei manchen Herstellern öffnet allerdings Chancen für Neukunden wie Start-ups, für die bei vielen Benannten Stellen zuletzt noch ein Aufnahmestopp galt. Dieses Fenster für Neukunden werde sich aber demnächst, wenn die Deadline näher rückt, wieder schließen. Insgesamt sollten die Unternehmen die zusätzliche Zeit gut nutzen und auch die langen Zeiträume für Zertifizierungsprozesse nicht außer Acht lassen. Er sprach sich darüber hinaus dafür aus, frühzeitig ein Qualitätsmanagementsystem aufzubauen, das die Anforderungen von MDR bzw. IVDR berücksichtigt, und dieses nach ISO 13485 zertifizieren zu lassen. Rentschler riet davon ab, auf weitere Guidance Dokumente oder harmonisierte Normen zu warten, die Zeit reicht nicht dafür, sondern man muss jetzt mit etwas Mut alles Nötige vorbereiten und darauf achten, eine qualitativ hochwertige, vollständige Technische Dokumentation zu erstellen. Er rät auch dazu, die Regulatory Affairs Kompetenzen in den Unternehmen zu erhöhen. Dazu kann man auch das Schulungsangebot der Benannten Stellen nutzen – es wird keine individuelle, produktspezifische Beratung angeboten, das erlauben die gesetzlichen Vorgaben nicht – aber auch die angebotene Erläuterung der gesetzlichen und normativen Anforderungen bringt die Unternehmen voran. Zusätzlich gibt es gemeinsame Angebote der Benannten Stellen im Rahmen von Team NB. Auf die aus dem Publikum gestellte Frage nach der Anzahl der Unternehmen, welche die MDR nicht schaffen werde und damit von der Aufgabe bedroht sei, gibt Harald Rentschler eine persönliche Schätzung von 10-15% ab. Hierunter seien auch einige Unternehmen, welche jetzt schon wissen, dass sie die Herstellerrolle aufgeben werden, aber die Übergangsfristen möglichst lange nutzen wollen, ohne eine MDR-konforme Technische Dokumentation zu erstellen. Damit verbundene „Pseudoanträge“ gemäß MDR akzeptiere mdc nicht, da hierdurch anderen Herstellern wertvolle personelle Ressourcen vorenthalten würden.

Regulatory Sand Boxes, mehr Risikokapital für die Branche und Förderfähigkeit der Kosten in Richtlinien verankern

Lukas Seper, Mitgründer von XUND und dem Interessensverband für digitale Gesundheitsversorgung in Österreich, kurz „Health Pioneers“, hielt fest, dass Regulierung grundsätzlich etwas Gutes ist. Er versteht das MDR-Zertifikat als Qualitätsstempel. Dieses erlaubt es nicht nur, den EU-Markt zu bedienen, sondern hat auch darüber hinaus Signalwirkung. Er sieht die Fristverlängerung trotzdem positiv für junge Unternehmen, da einige Benannte Stellen nun wieder Kapazitäten haben. Insgesamt sei die Lage aber für Neugründungen derzeit besonders schwer – das Marktumfeld gestaltet sich als sehr schwierig und die Herausforderung, an das nötige Risikokapital zu kommen, ist noch größer als vor einigen Jahren. Das merke man auch an sinkenden Gründungszahlen. Regulatory Sand Boxes könnten laut Lukas Seper hilfreiche Instrumente sein, um Innovationen marktgerecht gemeinsam mit den kostentragenden Stellen und Anwender*innen zu entwickeln. Die Grundfrage sei ja immer, ob ein Produkt überhaupt ein Medizinprodukt ist und ob es Bedarf dafür gibt. Teilweise muss auch die ursprüngliche Idee verfeinert oder in eine ganz andere Richtung weiterentwickelt werden. Das frühzeitig zu wissen ist zentral, um eine Aussicht auf Erfolg zu haben. XUND hatte seiner Ansicht nach Glück mit der involvierten Benannten Stelle - man habe früh entschiedenen, ein Medizinprodukt zu entwickeln und konnte Anfang 2022 als eines der ersten softwarebasierten Medizinprodukte der Klasse IIa nach MDR zertifiziert werden. Um Start-ups zu unterstützten, bräuchte es nicht nur die angesprochenen Regulatory Sand Boxes, sondern auch Anreize für Neugründungen, mehr Risikokapital für die Branche und Förderrichtlinien, die es explizit erlauben, Zertifizierungskosten geltend zu machen. Junge Digital Health Unternehmen lädt er ein, sich zu vernetzten, z.B. beim Health Pioneers Stammtisch – nächster Termin: 29.11.2023.

  • Tipp: Das Austrian Life Sciences Programm fördert auch die klinische Bewertung von Medizinprodukten und erleichtert damit die Zertifizierung nach MDR. Ebenfalls unterstützt werden klinische Leistungsstudien rund um IVDs, um den Anforderungen der IVDR zu entsprechen. Lassen Sie sich umgehend dazu beraten und reichen Sie so rasch wie möglich Ihre Anträge ein - späteste Deadline: 21.12.2023

Ausreichend Zeit einplanen und proaktiv arbeiten statt jammern

Michael Forisch, mySugr / Roche, berichtete, dass die Umstellung von MDD auf MDR bei mySugr vollzogen ist. Die Dokumente dafür anzupassen hätte rund drei Monate gedauert. Seiner Einschätzung nach waren vielen Anforderungen auch schon in den alten Regularien enthalten, wurden aber nicht so streng gehandhabt. Das jetzige System sei ausgefeilter und klarer, aber an sich kein neues Konzept oder weltbewegend anders. Forisch ermutigte dazu, mit den Benannten Stellen zu diskutieren und bei Unklarheiten aktiv Vorschläge einzubringen, anstatt zu jammern. Auch Mut zur Lücke sei manchmal angebracht, um sich nicht in unbedeutsamen Details zu verlieren. Bei mySugr waren um die zehn Diskussionsrunden nötig, bis alle Fragen im Detail geklärt waren, was rund 14 Monate in Anspruch nahm. Er bestätigte allerdings, dass Zertifizierungen für kleine Unternehmen tatsächlich ein Problem darstellen – nicht wegen der eigentlichen Anforderungen, sondern wegen der Dauer des Prozesses. Früher musste man etwa ein Jahr veranschlagen, heute sind zwei Jahre oder mehr nötig. Um diese Zeitspanne durchzuhalten, ist jetzt entsprechend mehr Risikokapital nötig. Start-ups ermutigt er dazu, sich mit Expert*innen zu beraten, viele Fragen zu stellen, gut zuzuhören und inhaltlich stichhaltig argumentieren zu lernen. Manchmal seien auch Zufälle hilfreich – so sei er sich erst nach einem Gespräch im Zug über Blutzuckerkurven mit einem Mitreisenden sicher geworden, dass mySugr ein Medizinprodukt ist – der Mitreisende hatte sich als Leiter der AGES herausgestellt und meinte, das falle dann wohl in seinen Zuständigkeitsbereich. Über die Diskussion rund um MDR oder IVDR sollen Start-ups aber nicht auf die anderen Dinge zu vergessen, an die man sich ebenfalls halten muss oder die man für die Zukunft im Blick behalten sollte, z.B. Alles was mit dem Thema Datensicherheit, EU AI Act oder dem European Health Data Space zusammenhängt.

IVDR: Neue Benannte Stelle in Österreich startet durch und hat noch freie Kapazitäten

Anni Koubek, Geschäftsführerin QMD Services, blickte bei der Diskussion auf den mehr als drei Jahre dauernden Prozess für die Zulassung als europäische Konformitätsbewertungsstelle nach der IVDR zurück. Sie ist dankbar, dass das geklappt hat und die neu eingerichtete Benannte Stelle heuer von Null auf Hundert durchstarten konnte. Sie erwähnte, dass es Kapazitäten für neue Projekte und neue Kunden gibt, erinnerte aber auch daran, dass allein die Zeit von der ersten Anfrage bis zum Vertragsabschluss mehrere Monate dauern kann. Zahlreiche Dokumente müssen schon vorab eingereicht und geprüft werden. In ihren Augen ist es wichtig, dass sich Unternehmen darüber im Klaren sind, dass die Qualität der Technischen Dokumentation sehr gut sein muss für eine zügige Prüfung – alles andere wird dann langwierig und teuer. Start-ups riet sie, sich von Profis helfen zu lassen, damit vollständige und qualitative hochwertige Unterlagen eingereicht werden. Die technische Dokumentation ist eine Zusammenstellung aller relevanten Dokumente eines Produkts, und muss deswegen schon in der Entwicklung mitgeführt werden. Sie muss während des gesamten Produktlebenszyklus auf dem aktuellen Stand gehalten werden. Wann QMD Services als europäische Konformitätsbewertungsstelle nach der MDR zugelassen sein wird, lässt sich noch genau abschätzen, der Prozess läuft. Ansonsten merkte sie noch an, dass es Diskussionsgruppen gibt, um den Informationsaustausch zwischen Benannten Stellen zu erleichtern und den Umgang mit technischen Details auf EU Ebene zu koordinieren. Dazu zählt die Arbeitsgruppe Notified bodies Coordination Group (NBCG) und Team-NB. Team-NB bietet auch Trainings für Hersteller (z.B. für die Erstellung einer technischen Dokumentation) an.

Qualitätsmanagementsystem aufbauen, Zertifizierungsprozess mit kompetentem Team durchführen und Pipeline füllen

Heike Möhlig-Zuttermeister, Leiterin des Bereichs IVD, Medical & Health Services bei TÜV Süd, wies darauf hin, dass der TÜV Süd das Personal im IVD-Bereich deutlich aufgestockt hat und derzeit über Kapazitäten für neue IVDR-Projekte verfügt. Das Team wurde von sieben Personen mit dedizierter IVD-Expertise im Jahr 2016 auf rund 70 IVD-Expert*innen im Jahr 2023 vergrößert. TÜV Süd ist eine von sechs IVDR Benannten Stellen, die einen „full scope“ besitzt, und somit die Kompetenzen und Ressourcen hat, um alle IVDs entsprechend der IVDR zertifizieren zu können. Sie riet dazu, sich vor Anfragen genau anzuschauen, ob die Produkte, für die man eine IVDR-Zertifizierung anstrebt, im Bewertungsspektrum einer Benannten Stelle abgedeckt sind. Man kann als Unternehmen entweder alle Produkte von einer Stelle zertifizieren lassen oder für verschiedene Produktgruppen mit unterschiedlichen Partnern zusammenarbeiten. Für eine erfolgreiche IVDR-Transition ist es entscheidend, dass die IVDR vollständig in die Organisation und ihrem Qualitätsmanagementsystem, kurz QMS, implementiert wird, um eine „IVDR konforme“ Entwicklungspipeline sicherzustellen. Jungen Unternehmen empfahl sie darüber hinaus, als ersten Schritt ein QMS nach der ISO 13585 einzurichten und sich dafür zertifizieren zu lassen – aus Effizienzgründen am besten von der Benannten Stelle, mit der dann später für die IVDR-Zertifizierung zusammengearbeitet werden soll. Oft werde intern von den gleichen Personen an den verschiedenen Projekten eines Unternehmens gearbeitet. An die Geschäftsführungen der Unternehmen appellierte sie, die Sichtbarkeit und das Gewicht der Regulatory Affairs im Unternehmen zu erhöhen und vorrangig Spezialist*innen einzustellen – das ist gut investiertes Geld. Gleichzeitig dürfe man nicht aufhören, Neues zu entwickeln und auf F&E zu setzen. Irgendwann werden die regulatorischen Herausforderungen bewältigt sein und man kann das erste Produkt auf den Markt bringen – aber die Pipeline für die Zukunft sollte gleichzeitig gut gefüllt sein als Grundlage für längerfristigen Erfolg. Den Vorschlag, Regulatory Sand Boxes für junge Unternehmen einzurichten, fand sie sehr hilfreich. Schon in der Entwicklungsphase sollte entschieden werden, ob ein Produkt tatsächlich ein Medizinprodukt oder ein In-vitro Diagnostikum ist oder nicht. Ebenfalls sollte bereits in der frühen Entwicklungsphase oder bei Machbarkeitsstudien die IVDR-Risikoklasse des In-vitro Diagnostikums definiert werden, abhängig von der Zweckbestimmung des entsprechenden IVDs. Die Zweckbestimmung ist entscheidend und ausschlaggebend sowohl für das Marktpotential des IVDs, als auch für die zutreffenden regulatorischen Anforderungen. Sie ermutigte, in einen Austausch mit den Benannten Stellen zu gehen. Dieser Austausch ist wichtig, um ein gemeinsames Verständnis der jeweiligen Erwartungshaltung, v. a. bezüglich Timelines und Ressourcen zu erhalten. TÜV Süd bietet einen „Structured Dialogue“ Service an, der darauf ausgelegt ist, Hersteller in ihrer IVDR/MDR Strategie in einer frühen Phase zu unterstützen – bevor ein Vertrag mit TÜV Süd geschlossen wurde. Sobald ein Vertrag mit TÜV Süd geschlossen wurde, wird jeder Hersteller von einer/einem dedizierten verantwortlichen IVD-Expert*in betreut, um eine kanalisierte und regelmäßige Kommunikation sicherzustellen. Wichtig zu wissen: Auch Benannte Stellen entwickeln sich laufend weiter, so wird mit Hochdruck am Verbessern der internen Prozesse gearbeitet, um die Abläufe effizienter und schneller zu machen.

Regulatorische Anforderungen sind bewältigbar, Erfolgsbeispiele aus Österreich zeigen, wie’s geht und Termin des nächsten online Forums zur Fortsetzung des Austauschs

Martin Schmid, Geschäftsführer von en.co.tec., fasst zusammen: „Wo vor einem Jahr noch über Kapazitätsengpässe bei Benannten Stellen diskutiert wurde, sprechen wir heute von einem kurzen offenen Fenster für Neukunden. Das ist erfreulich für alle, die neue Produkte in der Pipeline haben und an ihrer Technischen Dokumentation für den Zertifizierungsprozess nach MDR bzw. IVDR arbeiten. Da absehbar ist, dass sich dieses Fenster bald wieder schließen wird, laden wir Sie ein, nicht zu zögern und bei Bedarf unbedingt die Gelegenheit zu nutzen, mit den Benannte Stellen in Kontakt zu treten.*) Bringen Sie Ihre Produkte gemeinsam mit Expert*innen in der EU auf den Markt, damit auch die Patient*innen in der Region von Ihrem Erfindungsgeist und Ihren Produkten profitieren. Auch wenn die Hürden für die den Markteintritt zunächst groß erscheinen, sie sind zu bewältigen. Das zeigen nicht nur die Beispiele mySugr und XUND mit erfolgreich abgeschlossenen Zertifizierungen. Bei der Konferenz vertreten waren auch edupression (SOFY GmbH) – Österreichs einziges Tool im deutschen DiGA-Katalog, sowie contextflow, cortEXplore, Genspeed, ImageBiopsy Lab, Macro Array Diagnostics, Synedra IT und Technoclone, die bereit waren ihre Erfahrungen mit laufenden oder schon abgeschlossenen Zertifizierungsprozessen und internationalen Marktzulassungen zu teilen. Lesen Sie in den Vortragsunterlagen die wichtigsten Eckpunkte nach und nutzen Sie unsere online Diskussionsforen, um sich am Laufenden zu halten und Ihre Fragen zu besprechen.“

  • Veranstaltungstipp: 27.11.2023, ab 16 Uhr: Online Forum Roundtable - Regulatory Update für Medizinprodukte und In-vitro Diagnostika mit Martin Schmid, Ghazaleh Gouya Lechner und Nilaykumar Patel sowie anschließendem Live-streaming aus Graz: Buchpräsentation „Medical Devices and In Vitro Diagnostics. Requirements in Europe.“, Vortrag Philipp Lindinger und Paneldiskussion mit SteadySense, EXIAS – Medizintechnik Behounek – Human.technology Styria – Austromed – CommuModo.

*) Bei Bedarf kann ich Sie im Rahmen unseres Programms en.co.tec FIT bei der Suche und Antragstellung bei einer geeigneten benannten Stelle professionell unterstützen.

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