Ein internationales Team von Wissenschafter*innen aus Deutschland, Österreich und den USA zeigen im renommierten Fachjournal Nature, wie die gesellschaftliche Polarisierung die Erinnerung an die Coronapandemie verzerrt und damit die Vorbereitung auf künftige Krisen erschwert.
In mehreren umfassenden Studien hat ein Forschungsteam aus Bamberg, Chicago, Erfurt/Hamburg und Wien untersucht, wie Wahrnehmungen und Verhaltensweisen während der Pandemie künftige Einstellungen prägen könnten und wie die Erinnerung an Empfindungen während der Pandemie durch Wahrnehmungen der aktuellen Situation verzerrt sein können. Die Studienteilnehmer*innen wurden bereits im ersten Jahr der Pandemie, also 2020, befragt und dann nochmals um den Jahreswechsel 2022/23. "In der zweiten Befragung wurden sie auch gebeten, sich an ihre Wahrnehmungen und Verhaltensweisen im ersten Jahr der Pandemie zu erinnern. So konnten ihre Erinnerungen mit den tatsächlich gegebenen Antworten verglichen werden", erklärt einer der Erstautoren, Philipp Sprengholz von der Universität Bamberg.
Mittels mehrerer Studien mit über 10.000 Befragten aus insgesamt 10 Ländern konnten die Forscher*innen so ermitteln, inwieweit die Erinnerungen an die eigenen Angaben aus der Vergangenheit von aktuellen Wahrnehmungen und Verhaltensweisen abhängig waren. Insbesondere interessierte die Wissenschafter*innen, wie unterschiedliche Einstellungen die Verzerrung der Erinnerungen beeinflussen. Dafür betrachteten sie vor allem, ob die Befragten gegen Corona geimpft oder ungeimpft waren. Das überraschende Ergebnis: Je nachdem, wie sehr sich Geimpfte beziehungsweise Ungeimpfte mit ihrem Impfstatus identifizieren, sind die Erinnerungen in unterschiedliche Richtungen verzerrt.
So überschätzten beispielsweise Geimpfte ihr damals wahrgenommenes Risiko einer Infektion und ihr Vertrauen in die Wissenschaft, während beides von Ungeimpften im Rückblick tendenziell unterschätzt wurde. Da sich die Erinnerungen teilweise verbesserten, wenn die Befragten Geld für besonders akkurate Erinnerungen erhielten, schließen die Wissenschafter*innen, dass die Erinnerungsverzerrungen zumindest teilweise motiviert sind und nicht allein durch bloßes Vergessen erklärt werden können.
Wunsch zur Zerschlagung des politischen Systems
Weiterhin zeigten die Studienergebnisse, dass bei einer stärkeren Unterschätzung der damaligen Risikowahrnehmungen, Schutzverhalten und Vertrauen in die Regierung und Wissenschaft, politische Maßnahmen rückblickend als weniger angemessen wahrgenommen wurden. Negativere Bewertungen der politischen Maßnahmen während der Pandemie sind der Studie zufolge auch mit einem stärkeren Wunsch verbunden, Politiker*innen und Wissenschafter*innen für ihr Handeln in der Pandemie zu bestrafen und die gesamte politische Ordnung zu zerschlagen. Wenig überraschend gaben diese Befragten auch an, dass sie nicht beabsichtigen, Bestimmungen in zukünftigen Pandemien zu folgen. Insgesamt waren diese Intentionen in den einzelnen Ländern unterschiedlich stark ausgeprägt (siehe Abbildung).
Verzerrte Erinnerungen erschweren die Vorbereitung auf kommende Krisen
"Die Ergebnisse zeigen, dass es systematische Unterschiede darin gibt, wie sich Menschen an die Pandemie erinnern, obwohl sich ihre damaligen Einschätzungen oftmals gar nicht so stark voneinander unterschieden", fasst der zweite Hauptautor Luca Henkel von der University of Chicago die Ergebnisse zusammen. Die verzerrte Erinnerung führe zu einer polarisierten Wahrnehmung der Vergangenheit, die das Potenzial hat, die aktuelle und zukünftige gesellschaftliche Polarisierung aufrechtzuerhalten und die Vorbereitung auf kommende Krisen zu behindern. Cornelia Betsch von der Universität Erfurt und vom Bernhard Nocht Institut Hamburg ergänzt: "In Zukunft müssen wir über die kurzfristigen Effekte politischer Maßnahmen zur Eindämmung von Pandemien hinausblicken und auch langfristige Folgen für den sozialen Zusammenhalt berücksichtigen".
Weitere Studien sollen nun untersuchen, wie sich die Verzerrung von Erinnerungen und die gesellschaftliche Polarisierung im Laufe gegenseitig beeinflussen und wie diese Dynamik in verschiedenen Ländern variiert. Dabei sollen auch andere Krisen wie etwa die Klimakrise in den Blick genommen werden. "Außerdem wollen wir Wege zur Verringerung der Polarisierung erforschen. Eventuell lässt sich die Identifikation von Geimpften und Ungeimpften mit ihrem Impfstatus reduzieren. Damit könnte sich die Motivation verringern, die Erinnerungen überhaupt zu verzerren und somit die Aufarbeitung der Pandemie verbessert werden" ergänzt der Psychologe Robert Böhm von der Universität Wien.
Außerdem: Weitere Studie zu Folgen einer Pandemiemüdigkeit
In einer weiteren in Nature Communications publizierten Studie hat ein internationales Team von Wissenschafter*innen unter Beteiligung des Psychologen Robert Böhm von der Universität Wien das Phänomen der Pandemiemüdigkeit untersucht. Diese Pandemiemüdigkeit ist den Psycholog*innen zufolge eine Informations- und Verhaltensmüdigkeit, die sich im Lauf der Zeit auch verändert. Die Wissenschafter*innen sind schließlich zu dem Schluss gekommen, dass Pandemien die Menschen im Laufe der Zeit so sehr erschöpfen, dass die Wahrscheinlichkeit sinkt, dass sie den Empfehlungen der Behörden zum Gesundheitsschutz folgen.
Originalpublikationen:
Historical narratives about the COVID-19 pandemic are motivationally biased
DOI: 10.1038/s41586-023-06674-5
Development and validation of the pandemic fatigue scale. Nat Commun 14, 6352 (2023).
DOI: 10.1038/s41467-023-42063-2
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