Von 12 ERC Advanced Grants für österreichische Forschungsprojekte gehen sechs an die Universität Wien: Byzantinist und Philosophiehistoriker Christophe Erismann, Meeresökologe Gerhard Herndl, Anthropologe Thomas Higham, Historikerin Margareth Lanzinger, Chemiker Nuno Maulide und Entwicklungsbiologe Ulrich Technau erhalten je einen ERC Advanced Grant, der jeweils mit bis zu drei Millionen Euro dotiert ist. Damit wurden insgesamt bereits 135 ERC Grants an die Universität Wien vergeben. Mit dem Programm des Europäischen Forschungsrats (European Research Council, ERC) wird grundlagenorientierte Pionierforschung mit hohem Innovationspotenzial ermöglicht.
"Die hochkompetitiven Grants demonstrieren unsere internationale Wettbewerbsfähigkeit und den erfolgreichen Kurs der Universität Wien in Sachen Spitzenforschung. Ich gratuliere allen Preisträger*innen zu diesem großartigen Erfolg", so Rektor Sebastian Schütze.
Individualität in Byzanz
Das Projekt "This_one_There. From the paradox of individuality to the logic of representation. Individuals and descriptions in Byzantine thought (4th-12th centuries)" untersucht, wie byzantinische Denker die philosophische Frage der Individualität verstanden und behandelt haben. Byzanz entwickelte ab dem vierten Jahrhundert eine eigene intellektuelle Tradition auf Griechisch, die das Erbe der antiken Philosophie und die christliche Religion nicht ohne Auseinandersetzungen miteinander verband. Diese byzantinische Tradition bildet neben der lateinischen und der arabischen einen der großen Stränge des mittelalterlichen Denkens. Eine Theorie der Individualität versucht zu erklären, was zwei Individuen, die derselben Art angehören, ontologisch unterscheidet, was sie unterscheidbar macht und woran man das Individuum auf der rechten Seite als Paul und das auf der linken Seite als Peter erkennen kann. Bei der Analyse der Individualität vermischen sich ontologische, logische, semantische und epistemologische Überlegungen, was sie zu einem besonders komplexen philosophischen Problem macht.
In Byzanz, einer Gesellschaft, in der Bilder eine zentrale Rolle spielen, erhält das Problem der Individualität eine zusätzliche Dimension, nämlich die der Darstellbarkeit. Was muss von Paul dargestellt werden, damit jemand, der eine Darstellung des Apostels auf einer Ikone oder einem Fresko betrachtet, ihn erkennt? Die zentrale These der aristotelischen Tradition, die besagt, dass man keine Definition, sondern nur eine Beschreibung von Individuen geben kann, wird dadurch erheblich bereichert und neu überdacht. Durch die Kombination der Analyse philosophischer Quellen mit dem Studium literarischer Beschreibungen und der Untersuchung gemalter Porträts wird "This_one_There" versuchen, die gemeinsamen Denkstrukturen in diesen drei Bereichen zu beleuchten.
Über Christophe Erismann
Christophe Erismann ist Professor für byzantinische Geistesgeschichte an der Universität Wien und Vorstand des Instituts für Byzantinistik und Neogräzistik. Sein Fachgebiet umfasst die Spätantike und die ersten Jahrhunderte des Mittelalters. Bevor er sich der byzantinischen Tradition widmete, untersuchte er in seiner Pariser Dissertation von 2006 die Entstehung des Realismus der Universalien im lateinischen Denken. Nach drei Jahren in Cambridge als Postdoctoral Fellow der British Academy arbeitete der studierte Philosophiehistoriker an den Universitäten Helsinki, Lausanne und Harvard. Seit 2015 in Wien, konzentriert sich seine aktuelle Forschung auf die byzantinische Philosophie, die Stellung der rationalen Argumentation in religiösen Kontroversen und die Debatten im Zusammenhang mit Bild und Repräsentation während des Ikonoklasmus in Byzanz.
Der ERC Advanced Grant ist bereits Erismanns zweites europäisches Projekt an der Universität Wien nach einem Consolidator Grant im Jahr 2015.
Meeresschnee in der Tiefsee
Der Ozean ist der größte Kohlenstoff- und Wärmespeicher der Erde. Somit kommt ihm bei den globalen Klimaänderungen große Bedeutung zu. Speziell in der Tiefsee gibt es aber große Unsicherheiten in den Umsatzgeschwindigkeiten der verschiedenen Kohlenstoff-Reservoirs. Gerhard J. Herndl und sein Team erforschen in ihrem Projekt "NEREIDES" unbekannte Aspekte des Kohlenstoffkreislaufes im Nordatlantik. In zwei Forschungsfahrten mit dem niederländischen Forschungsschiff Pelagia messen die Wissenschafter*innen den Fluss von organischem Material aus der sonnendurchfluteten Oberflächenschichten in die Tiefsee.
Dieser Partikelregen, genannt "Meeresschnee", stellt die prinzipielle Nahrungsquelle aller Tiefseelebewesen dar. In der Tiefsee findet sich eine große Menge an diesem Meeresschnee, der völlig austariert ist und somit nicht weiter sinkt. Der Ursprung dieses Meeresschnee ist unbekannt, könnte von Oberflächenwasserschichten kommen und zunehmend fragmentieren oder in der Tiefsee produziert werden. Im Rahmen des Projektes sammeln die Forscher*innen diesen großen Pool an organischem Kohlenstoff und bestimmen seine chemischen und biologischen Komponenten. Ziel ist es, die Bedeutung des Tiefsee-Meeresschnees im Atlantik für die dort lebenden (Mikro)-Organismen zu klären und dessen Rolle als Speicher für Kohlenstoff unter geänderten Klimabedingungen zu untersuchen.
Über Gerhard J. Herndl
Gerhard J. Herndl ist Meeresökologe und erforscht seit mehr als zwei Jahrzehnten die biogeochemischen Kreisläufe und die mikrobiellen Gemeinschaften und deren Aktivitäten in der Tiefsee. Bevor Gerhard J. Herndl im Jahr 2008 als Professor für Meeresbiologie und Biologische Ozeanographie an die Universität Wien berufen wurde, war er Professor und Leiter der Abteilung Biologische Ozeanographie am Niederländischen Meeresforschungsinstitut an der Universität Groningen.
Für Gerhard J. Herndl ist das bereits der zweite ERC Advanced Grant, sein erster datiert von 2011. In diesem Jahr erhielt er auch den Wittgensteinpreis des FWF. Gerhard J. Herndl publizierte mehr als 300 Beiträge in Fachzeitschriften und zählt zu den meistzitierten Meeresökologen weltweit.
Der Weg des Homo sapiens durch die Levante
Der Mensch entwickelte sich vor etwa 250–300.000 Jahren in Afrika und zog später nach Eurasien. Der wahrscheinlichste Weg führte ihn durch die Levante. Thomas Higham und sein Team stellen die Frage, wann und wie oft dies geschah; und insbesondere, was geschah, als der Homo sapiens zum ersten Mal auf Neandertaler und andere Menschenarten wie die Denisova-Menschen traf. Die Forscher*innen konzentrieren sich dabei auf den Ksar ‘Akil im Libanon, eine der wichtigsten archäologischen Stätten in der Levante, die mehr als 60.000 Jahre alt ist. Der Grabungsplatz ist rund 23 Meter tief und enthält detaillierte Aufzeichnungen aus der Zeit, als die ersten modernen Menschen in der Region ankamen.
Im "Disperse"-Projekt werden die Wissenschafter*innen das Gelände erneut öffnen, indem die gesamte bisherige Aufschüttung der ehemaligen Ausgrabungen aus den 1930er/40er Jahren und den 1970er Jahren entfernt wird. Mit neuesten Sediment-DNA-Ansätzen bestimmen die Forscher*innen das Vorhandensein verschiedener Homininen anhand der archäologischen Sequenz. Sie wollen den Standort erstmals zuverlässig datieren, seine Steinwerkzeugreste analysieren und eine Aufzeichnung seiner Paläoumwelt- und Klimageschichte erstellen. So soll eine verlässliche Aufzeichnung des kulturellen Wandels im Laufe der Zeit erfolgen, die Aufschlüsse über die Details dieser späten Phase der menschlichen Evolution geben kann. Parallel dazu wird das Team auch an anderen Standorten in ganz Eurasien arbeiten, um den Zeitpunkt und die Verbreitung dieser frühesten Menschen zu erforschen.
Über Thomas Higham
Thomas Higham ist Professor für Wissenschaftliche Archäologie im Department für Evolutionäre Anthropologie der Universität Wien. Von 2001 bis 2021 arbeitete er an der Universität Oxford, wo er zuletzt Direktor der dortigen Radiocarbon Accelerator Unit war. Seine Bachelor- und Postgraduiertenabschlüsse erwarb er in seinem Heimatland Neuseeland in Chemie an der University of Waikato und der University of Otago. Seine Expertise liegt in der chronometrischen Datierung in der Archäologie. Er konzentriert sich auf die späte Evolution des Menschen, insbesondere seine Ausbreitung von Afrika in den Rest der Welt und seine Interaktion mit Neandertalern und anderen alten Menschen unter Verwendung von Methoden wie etwa der Paläproteomik.
Auch für Thomas Higham ist es bereits der zweite ERC Advanced Grants in seiner Karriere.
Transitverkehr in den Alpen des 18. Jahrhunderts
Durch die Frühe Neuzeit hindurch haben Unmengen an Gütern – Wein, Branntwein, Getreide, Salz, Rinder, Leinen, Seide, Eisenwaren, Trockenfrüchte und vieles andere mehr bis hin zu Schnecken und Austern – die Alpen überquert. Pferdewagen und Maultiere waren tagtäglich auf den Straßen und Saumpfaden unterwegs, um die Güter zu transportieren. Obwohl es sich dabei um einen expandierenden Wirtschaftszweig handelte, wissen wir jedoch sehr wenig, wie der Transport organisiert war. Das Projekt "ALPINNKONNECT" von Margareth Lanzinger konzentriert sich daher auf die alltägliche Praxis des Transitverkehrs über Land und Wasser in herausfordernden alpinen Landschaften.
Der räumliche Schwerpunkt für Margareth Lanzinger und ihr Team liegt auf der Brennerstrecke mit ihren östlichen und westlichen Transversalen sowie auf Schweizer Alpenübergängen. Gastwirt*innen werden als zentrale Akteure der Logistik und Gasthäuser als Drehscheiben der Infrastruktur des Transitverkehrs erachtet. Als pluriaktive Unternehmen waren sie in ein weit verzweigtes Netz von Heirats- und Verwandtschaftsbeziehungen eingebunden und standen in Verbindung mit Fuhrleuten, Säumern und Flößern, mit lokalen Rod-Genossenschaften und Spediteuren. Alle Beteiligten mussten mit schwierigen Straßenverhältnissen, wechselnden Jahreszeiten usw. zurechtkommen. Daher arbeiten die Wissenschafter*innen mit dem Ansatz der Verflechtung von sozialen, materiellen und naturbezogenen Aspekten und schließen Straßen, Brücken, Ställe, etc. ebenso in der Analyse ein wie Tiere und Transportmittel. Der Warenverkehr über Land wird im Projekt komplementär zum europäischen Handel auf dem Seeweg gesehen.
Über Margareth Lanzinger
Margareth Lanzinger ist seit 2017 Professorin für Wirtschafts- und Sozialgeschichte vom 16. bis zum 19. Jahrhundert am Institut für Wirtschafts- und Sozialgeschichte der Universität Wien. Sie habilitierte über Eheschließungen zwischen nahen Verwandten im ausgehenden 18. und 19. Jahrhundert und leitet FWF-Forschungsprojekte zu Verwandtschaft und Vermögen. Weitere Forschungsschwerpunkte sind Erb- und Ehegüterregime in Norm und Praxis, Kulturgeschichte der Verwaltung, Konstruktion von Held*innen. Sie war Gastprofessorin bzw. Gastdozentin an der FU Berlin sowie an den Universitäten Hannover und Siegen. Sie ist im Team der Geschäftsführung der Zeitschriften "Historische Anthropologie" und "Quaderni storici".
Neue Synthesewege für Kohlenstoffatome
In seinem neuen ERC-Projekt "C-HANCE" erforscht Nuno Maulide die Reaktivität von positiv geladenen Kohlenstoffatomen (sogenannten Carbokationen). Obwohl viele Reaktionen von Carbokationen grundlegend für die organische Chemie sind – Teile davon werden sogar im Grundstudium der Chemie weltweit unterrichtet – gibt es mehrere Überraschungen, wenn man von herkömmlichen Reaktionsbedingungen abweicht. So können Kohlenstoffatome an weiter entfernten Positionen bearbeitet werden, was zu unerwarteten und bisher unerforschten Reaktivitäten und Molekülstrukturen führen kann.
Im Rahmen dieses Projekts werden Nuno Maulide und sein Team verschiedene Methoden entwickeln, die neue Synthesewege für neuartige Substanzen mit breiten Anwendungen von der Materialchemie oder Arzneistoffsynthese bis hin zur Duftstoffsynthese eröffnen. Dies könnte den bereits sehr aktiven Forschungsbereich revolutionieren. Besonders vielversprechend ist die sogenannte C-H-Funktionalisierung, bei der normalerweise nicht reaktive C-H-Bindungen selektiv gebrochen und durch andere Bindungen ersetzt werden.
Über Nuno Maulide
Nuno Maulide ist seit Oktober 2013 Professor für Organische Synthese an der Fakultät für Chemie der Universität Wien. Hier forscht er vor allem im Bereich der Entwicklung neuer Synthesemethoden sowie der Synthese von organischen Verbindungen, die für gezielte biologische, biochemische und medizinische Anwendungen eingesetzt werden können. Er ist Wirkliches Mitglied der Akademie der Wissenschaften und wurde 2019 zum österreichischen Wissenschafter des Jahres gekürt.
Für Nuno Maulide ist der ERC Advanced Grant bereits die fünfte europäische Projektförderung: 2011 erhielt er einen ERC Starting Grant, 2016 einen ERC Consolidator Grant und 2018 sowie 2023 einen ERC Proof of Concept Grant.
Evolutionärer Ursprung von neuro-muskulären Systemen
Eines der prägendsten Merkmale von Tieren sind neuro-muskuläre Systeme, bestehend aus sensorischen und Motor-Neuronen, die verschiedene Typen von Muskeln ansteuern. Dies erlaubt Tieren sowohl langsame, nicht willentliche Bewegungen auszuführen – z.B. die Peristaltik des Darms – als auch schnelle, willentliche Bewegungen wie Gliedmaßenbewegungen. Neuro-muskuläre Systeme haben stark zur Diversifizierung der Körperbaupläne, der Lebenszyklen und kognitiven Fähigkeiten beigetragen. Über die evolutionären Ursprünge des Nervensystems und der Muskeln des Menschen und den Zusammenhang mit neuro-muskulären Systemen einfacher Organismen ist bislang wenig bekannt.
In seinem Projekt "EVONeuroMuscle" wird Ulrich Technau mit seinem Team diesen Ursprüngen in der frühen Evolution der Tiere nachgehen, indem er die molekularen Profile von Muskelzellen und Nervenzellen bei Cnidaria (Nesseltiere, z.B. Seeanemonen, Korallen, Quallen), Schwämmen und Rippenquallen entschlüsseln und miteinander vergleichen will. Mittels Transgenese und CRISPR/Cas9 Mutagenese wollen die Forscher*innen die Funktion der einzelnen neuro-muskulären Module im gesamten Organismus aufklären. Sie entwickeln darüber hinaus mathematische und biophysikalische Modelle, um die Komplexität der modularen Systeme zu simulieren. Die Erkenntnisse könnten auch Implikationen für unser Verständnis von neuro-muskulären degenerativen Erkrankungen haben.
Über Ulrich Technau
Ulrich Technau ist seit 2007 Professor für evolutionärer Entwicklungsbiologe an der Universität Wien. Er beschäftigt sich seit seiner Masterarbeit mit Nesseltieren und untersucht durch Vergleiche der Genome und Entwicklungsprozesse, wie sich die Vielfalt und Komplexität der verschiedenen Tierstämme evolviert haben. Ulrich Technau hat in Würzburg, Mainz, Toulouse und München Biologie studiert und in Frankfurt 1995 promoviert. Nach einem Postdoc-Aufenthalt an der University of California at Irvine habilitierte er sich an der TU Darmstadt und wechselte 2004 an das Michael Sars Centre in Bergen, Norwegen. Er ist gewähltes korrespondierendes Mitglied der österreichischen Akademie der Wissenschaften und der Deutschen Nationalen Akademie, Leopoldina.