Die Geschichte der Entstehung und Ausbreitung von Infektionskrankheiten ist nicht erst seit der Covid-19 Pandemie von grosser Bedeutung für die globale Gesundheit. Mit modernen Labormethoden können Forschende heute kleinste DNA-Spuren von Krankheitserregern in prähistorischen Funden bestimmen. Damit zeichnen sie die historische Ausbreitung und die evolutionäre Entwicklung von Erregern nach.
Eine internationale Forschungsgruppe um Prof. Dr. Verena Schünemann von der Universität Basel, früher Universität Zürich, in Zusammenarbeit mit der ETH Zürich, dem Naturhistorischen Museum Wien in Person vonProf. Dr. Sabine Eggers von der Anthropologischen Abteilung und den Universitäten Wien und Sao Paulo, hat prähistorische Knochen von Menschen untersucht, die vor 2000 Jahren in der Küstenregion Santa Catarina in Brasilien verstorbenen sind. Die sichtbaren pathologischen Veränderungen an einigen der prähistorischen Knochen deuten auf eine Syphilis-ähnliche Erkrankung der Verstorbenen hin.
Prähistorische DNA aus über 2000 Jahre alten Knochen
Mit feinen Bohrwerkzeugen aus der Zahnmedizin entnahmen die Forscher*innen unter sterilen Bedingungen kleinste Knochenproben und isolierten daraus prähistorisches Erbgut der Syphilis-Erreger, so genannte ancient DNA. Ihre im renommierten Fachmagazin Nature publizierte Studie zeigt, dass alle untersuchten Bakteriengenome dem Stamm der Treponema pallidum endemicum zuzuordnen sind, also den Erregern der endemischen Syphilis (englisch Bejel).
Treponematosen sind eine Gruppe von Infektionskrankheiten, zu denen auch die sexuell übertragene Syphilis gehört. Während Syphilis als Geschlechtskrankheit ein weltweites Gesundheitsrisiko darstellt, kommt die über Hautkontakt übertragene endemische Syphilis/Bejel nur noch in sehr trockenen Gebieten Afrikas und Asiens vor.
«Wir können mit unserer Untersuchung nachweisen, dass die endemische Syphilis bereits vor etwa 2000 Jahren in feuchten Zonen Brasiliens vorhanden war», sagt Verena Schünemann.
Die 8000 km lange Küste Brasiliens war vor circa 8000 bis 1000 Jahren von Menschen der Sambaqui (oder Muschelberg) Kultur besiedelt, aus denen die hier untersuchten Proben stammen. «Die Aufrechterhaltung dieser langlebigen Kultur war nur durch den Kontakt dieser Menschen über Jahrhunderte und über tausende Kilometer hinweg möglich. Die zeitliche und räumliche Vernetzung trug somit auch zur Verbreitung von Krankheiten bei», sagt Sabine Eggers (Naturhistorisches Museum Wien). Menschen haben sich also bereits mehr als 1000 Jahre vor der Ankunft von Kolumbus in der Neuen Welt mit der endemischen Syphilis angesteckt, wahrscheinlich über Hautkontakt.
Syphilis-ähnliche Erkrankungen sind präkolumbianischen Ursprungs
Bis heute wird in der Fachwelt und unter Medizinhistoriker*innen intensiv darüber debattiert, ob Matrosen des Christoph Kolumbus bei ihrer Rückkehr 1493 die sexuell übertragbare Syphilis aus der Neuen in die Alte Welt eingeschleppt haben. Ab Ende des 15. Jahrhunderts breitete sich die Krankheit insbesondere in Hafenstädten Europas rasant aus.
«Dass wir in den brasilianischen Knochen des Sambaquis Jabuticabeira II nur den Erreger der endemischen Syphilis gefunden haben und nicht den Erreger der sexuell übertragbaren Syphilis, lässt die Frage nach dem Ursprung derzeit noch offen», sagt Kerttu Majander, Postdoktorandin an der Universität Basel und eine der Erstautorinnen der Studie. Für die Autor*innen der Studie spricht aber Vieles dafür, dass Treponematosen bereits vor der Rückkehr von Kolumbus in Europa verbreitet waren.
«Da wir in Südamerika keine sexuell übertragene Syphilis-Erreger gefunden haben, erscheint die Theorie, dass Kolumbus Syphilis nach Europa gebracht hat, immer unwahrscheinlicher», bekräftigt auch Verena Schünemann. Vielmehr deuten frühere Funde ihrer Gruppe zum Beispiel in Finnland und Polen darauf hin, dass es auch in Europa bereits Formen von Treponematosen gab.
Rekombination könnte die Entwicklung Syphilis-ähnlicher Erkrankungen angetrieben haben
Viele Bakterienarten tauschen evolutionär nützliche Eigenschaften über den so genannten horizontalen Gentransfer oder Rekombination aus. Der Vergleich der prähistorischen DNA in den Knochen aus Brasilien mit heutigen Krankheitserregern zeigt, dass solche Rekombinationsereignisse stattgefunden haben. „Wir können zwar nicht genau sagen, wann dieser Austausch stattgefunden hat, aber er ist wahrscheinlich der treibende Mechanismus für die Entstehung der heutigen Unterarten der Erregerfamilie“, sagt Marta Pla-Díaz von der Universität Basel, die andere Erstautorin der Studie.
Der DNA-Vergleich erlaubt es auch, den Zeitpunkt der Entstehung der Treponema pallidum-Familie zu datieren. Die Untersuchungen zeigen, dass diese Erreger im Zeitraum zwischen 12.000 und 550 v.Chr. entstanden sein müssen. Die Entstehungsgeschichte dieser Erreger reicht damit sehr viel weiter zurück als bisher angenommen.
„Auch wenn der Ursprung der Syphilis noch Raum für Spekulationen lässt, wissen wir jetzt zumindest zweifelsfrei, dass Treponematosen den amerikanischen Ureinwohnern schon Jahrhunderte vor dem Kontakt mit den Europäern nicht unbekannt waren“, sagt Verena Schünemann. Sie und ihr Team sind zuversichtlich, dass dank den Fortschritten in der Bestimmung von prähistorischer DNA auch der Ursprung der Geschlechtskrankheit Syphilis geklärt werden kann.
Wechselwirkungen zwischen Umwelt, Mensch und Tier heute
Direkte Nachfahren der Sambaqui Erbauer von Jabuticabeira II sind nicht nachgewiesen. Jedoch leben heute in dieser Region Kaingang, Guarani und Xokleng Indigene. In der Studie werden deswegen auch ethisch-rechtliche Fragen diskutiert. Sabine Eggers betont, dass „historische Ungerechtigkeiten, Kolonisierung und Enteignung, die die Integration und das Überleben indigener Gemeinschaften und ihre territorialen Rechte beeinträchtigten, in der Studie aufgezeigt werden“.
Des Weiteren werden die Auswirkungen von Krankheiten wie die endemische Syphilis auf indigene Gemeinschaften besprochen, wobei sie betont, „dass diese Krankheit offiziell in Brasilien nicht als aktuelles öffentliches Gesundheitsproblem gilt“.
Eine kulturell sensible Wortwahl wurde in Zusammenarbeit mit Edson Krenak, einem indigenen Aktivisten und Brasilien-Experten, sichergestellt.
Angesichts des Klimawandels, der zu Veränderungen im Aufkommen und der Verbreitung von Krankheitserregern führt, unterstreicht diese Studie die Notwendigkeit eines ganzheitlichen Ansatzes. Die evolutionäre Medizin und das Konzept von One Health, welches die Gesundheit von Menschen, Tieren und der Umwelt gleichermaßen berücksichtigt, sind entscheidend für die Bewältigung dieser Herausforderungen.
Originalbeitrag:
Kerttu Majander, Marta Pla-Diaz, et al.
Redefining the treponemal history through pre-Columbian genomes from Brazil
Nature (2024), doi: 10.1038/s41586-023-06965-x
https://doi.org/10.1038/s41586-023-06965-x
Rückfragen & Kontakt:
Wissenschaftlicher Rückfragehinweis:
Prof. Dr. Sabine Eggers, Anthropologische Abteilung, NHM Wien
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