Naturhistorisches Museum: Neue Forschungsergebnisse geben Aufschluss über die genetische Ausstattung des eiszeitlichen Menschen in Eurasien

Anhand verbesserter Genomanalysen konnten paläolithische und neolithische eurasische menschliche Skelettfunde untersucht und auf ihre genetische Ausstattung geprüft werden. Die Ergebnisse veranschaulichen die Bevölkerungsbiologie in vor-neolithischer Zeit und die Verwandtschaftsbeziehungen zwischen Neandertalern, den ersten modernen Menschen und den heutigen Menschen.

Dazu erscheint am 2. Mai 2016 (um 16 Uhr) ein Beitrag in „Nature“ mit dem Titel: “The genetic history of Ice Age Europe“ (Q. Fu, […], Ch. Neugebauer-Maresch, M. Teschler-Nicola […], J. Krause, S. Pääbo, D. Reich). Wir bitten MedienvertreterInnen, diese Sperrfrist zu berücksichtigen.

Spezialuntersuchungen der „Zwillinge von Krems“ am NHM Wien
Zwischen 2005 und 2015 wurden am Wachtberg in Krems (NÖ) im Bereich einer altsteinzeitlichen Fundstelle Forschungsgrabungen von der Österreichischen Akademie der Wissenschaften (unterstützt von FWF und Land Niederösterreich) vorgenommen. Innerhalb eines hervorragend erhaltenen Lagerplatzes konnten zwei Säuglingsbestattungen freigelegt werden – eine Doppelbestattung zweier Neugeborener und eine Einzelbestattung eines Säuglings.

Diese sensationellen, mehr als 30.000 Jahre alten Bestattungen wurden den MitarbeiterInnen der Anthropologischen Abteilung am Naturhistorischen Museum Wien zur wissenschaftlichen Bearbeitung übergeben. Neben konservatorischen Maßnahmen wurde unter der Leitung von Maria Teschler-Nicola eine non-invasive Dokumentation (Oberflächenscans und CT) vorgenommen und 2015 die Doppelbestattung für weitere Spezialuntersuchungen freigelegt. Die Einzelbestattung hingegen sollte aufgrund ihrer schlechten Repräsentation als wertvolles und anschauliches museales Schauobjekt und Zeugnis jungpaläolithischer Bestattungspraxis in situ erhalten bleiben, entnommen wurde lediglich eine Knochenprobe für eine aDNA Analyse (ancient/alte DNA) . Diese wurde von MitarbeiterInnen des Max-Planck-Institutes für Evolutionäre Anthropologie durchgeführt. Die Ergebnisse der Genomanalyse beleuchten mit 50 weiteren Datensätzen erstmals umfassend die genetische Geschichte des eiszeitlichen Menschen in Eurasien.
Erstmals chronologischer und regionaler Vergleich der genetischen Ausstattung des eiszeitlichen Menschen möglich

Neue paläoanthropologische Forschungen konnten zeigen, dass der anatomisch moderne Mensch bereits vor etwa 45.000 Jahren in Europa auftauchte und die hier lebenden Neandertaler sukzessive ablöste. In den letzten Jahren gelang es dank der zunehmend verbesserten Methoden der Genomanalytik, die genetische Variabilität der archaischen Vorfahren des heutigen Menschen, der Neandertaler, zu entschlüsseln und Verwandtschaftsbeziehungen zu rekonstruieren. Ihr Erbe konnte auch bei den heutigen Europäern identifiziert werden (ca. 2%). Trotz dieser Erfolge tappte man bei der Abschätzung der genetischen Ausstattung des eiszeitlichen Menschen in Eurasien, d.h. der Zeit zwischen der Ankunft des anatomisch modernen Menschen (von diesen wurden bisher lediglich vier Individuen genomanalytisch erfasst) in Europa und den ersten sesshaften Bauern (um ca. 9.000 v. Chr.) im Dunkeln.

Diese Lücke wurde nun durch die am Max-Planck-Institut für Evolutionäre Anthropologie in Leipzig unter der Federführung von Qiaomei Fu, Johannes Krause, Svante Pääbo und David Reich erfolgreich durchgeführten Genanalysen von 51 paläolithischen und neolithischen eurasischen menschlichen Skelettfunden geschlossen. Der Umfang der Stichprobe ermöglichte erstmals auch einen chronologischen und regionalen Vergleich.
Die Ergebnisse der Genomanalysen veranschaulichen die Komplexität der Bevölkerungsbiologie in vor-neolithischer Zeit

Die allerersten modernen Menschen in Europa dürften keinen Beitrag zum Genpool des heutigen Menschen geliefert haben (etwa der Fund von Oase in Rumänien): Erst ab ca. 37.000 Jahren zeigen die analysierten Individuen eine ähnliche Abstammung wie die heutigen Europäer.

Ein weiteres Ergebnis betrifft die gravettienzeitlichen Individuen (vor ca. 34.000 bis 24.000 Jahren): Die Individuen aus Mitteleuropa (zu denen auch der Säugling vom Wachtberg in Krems gehört) zeigen keine genetische Beziehung zu einem zeitgleichen Individuum aus Sibirien. Das ist insofern besonders interessant, als die bekannten Venus-Figurinen („Venus von Willendorf“, 29.500 Jahre alt, und „Fanny von Stratzing“, 36.000 Jahre alt) mit beiden Komplexen assoziiert sind – es wird daher angenommen, dass es sich um Kulturdiffusion bzw. Weitergabe von Ideen handelt.

Ab etwa 14.000 Jahren zeigen alle Europäer eine Affinität zum Nahen Osten, was man mit klimatischen Veränderungen (Bolling-Allerod Interstadial, der ersten signifikanten Erwärmungsperiode nach dem glazialen Maximum) in Verbindung bringen kann. Archäologisch korreliert diese Expansion mit spezifischen kulturellen Transitionen, das heißt, das Ergebnis kann Migration in Europa am Ende der Eiszeit – und zwar früher, als bisher angenommen – reflektieren.

Ergebnisse bezüglich der Skelettfunde am Wachtberg in Krems
Zwei Ergebnisse sind besonders herauszustreichen:

1.) Es gelang, das Geschlecht dieses Kindes als „männlich“ zu bestimmen, was auf der Basis der morphologischen Skelettmerkmale nicht möglich gewesen wäre

2.) Es wird deutlich, dass der Neandertaler-Anteil mit 3,9 % höher ist, als beim heutigen modernen Menschen. Das ist mit der Annahme stimmig, dass das Neandertaler-Erbe in den letzten 45.000 Jahren – je nach Statistik – vom archaischen anatomisch modernen Menschen zum heutigen Menschen von 4,3-5,7% auf 1-2,2% (oder alternativ von 3,2-4,2 bis 1,8-2,3%) abnahm. Da die Individuen, die zwischen 37.000 und 14.000 Jahre alt sind, von einer einzigen Gründerpopulation abstammen, kann die Abnahme der Neandertaler-Merkmale allerdings nicht aus einer Vermischung mit Populationen resultieren, die weniger Neandertaler-Erbgut trugen. Dieses Phänomen lässt sich wohl so interpretieren, dass natürliche Selektion das Erbe der Neandertaler im Verlaufe der Zeit reduzierte.

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