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Pharmig: Schnell, digital und barrierefrei: Lehren aus der COVID-19-Pandemie für die Versorgung von Menschen mit seltenen Erkrankungen

Mehr Telemedizin, leicht zugängliche Betroffenenbetreuung und gezielter Einsatz digitaler Tools verbessern Versorgung und Forschung bei seltenen Erkrankungen.

COVID-19 stellt die Versorgung von Patientinnen und Patienten auf eine harte Probe, auch von jenen, die an seltenen Erkrankungen leiden. Gleichzeitig forciert die Pandemie den Weg für die Telemedizin und digitale Tools, die vor allem die Versorgung erleichtern sollen. Welche Möglichkeiten sich dadurch für Menschen mit seltenen Erkrankungen ergeben, wurde von Expertinnen und Experten beim 9. Rare Diseases Dialog der PHARMIG ACADEMY diskutiert.

Viele der seltenen Erkrankungen sind bekanntlicherweise sehr betreuungsintensiv. Engmaschige Kontrollen sind daher notwendig, um rechtzeitig auf Verschlechterungen im Krankheitsverlauf reagieren zu können. Doch aus Angst vor einer Corona-Infektion unterbrachen viele Patientinnen und Patienten ihre Therapien oder erschienen nicht zur Kontrolle im Spital, wie auch eine Umfrage im Vorfeld zu dieser Veranstaltung zeigte.

Der persönliche Kontakt zum medizinischen Personal wurde teils durch digitale Tools unterstützt, worin ein großes Potenzial auch für die Post-COVID-19-Zeit liegt, wie Onkologe, Psychotherapeut und Programmdirektor für Telemedizin Alexander Gaiger von der Medizinischen Universität Wien erklärt: „Würden Betroffene regelmäßig ihre Symptome über eine datenschutzkonforme und benutzerfreundlich App dokumentieren, wie über das derzeit an der Medizinischen Universität Wien eingesetzte ESMART-System, wäre dadurch auch eine Datenauswertung in Echtzeit bei anderen chronischen Erkrankungen möglich. Je nachdem, wie akut ein Symptom ausfällt, könnten in weiterer Folge bereits erste Behandlungsempfehlungen über das digitale Tool an Patientinnen und Patienten gehen, und zwar noch lange bevor sie den Weg in das nächste Spital antreten müssten. Der wesentlichste Nutzen wird aber darin gesehen, dass dadurch der Ärzteschaft Zeit für das persönliche Gespräch mit den Patientinnen und Patienten bleibt, da die Gesundheitsdaten bereits dokumentiert vorliegen und nicht während der Visite zeitaufwendig, und wegen Erinnerungslücken oft mangelhaft, erhoben werden müssen.“

Gerade in der Pandemie habe es laut Herwig Ostermann, Geschäftsführer der Gesundheit Österreich GmbH, durch die hohe Zahl an Infektionen eine Reihe von logistischen Herausforderungen im Gesundheitssystem gegeben. „Medizinische Leistungen haben sich zwar teilweise verschoben, aber das Basisprogramm unseres Gesundheitssystems konnte unter großen Anstrengungen aufrechterhalten werden“, so Ostermann mit Verweis auf nicht dringende medizinische Eingriffe und Operationen, die mit Blick auf die jeweils aktuellen COVID-19-Infektionszahlen aufgeschoben wurden. Da seltene Erkrankungen nur schwer zu diagnostizieren seien und vielfach selbst bei Feststellung der Erkrankung keine spezifischen Diagnosecodes für Dokumentationszwecke vorliegen, können für diese PatientInnengruppen leider keine statistisch quantifizierbaren Aussagen zu einer allfälligen Veränderung der Gesundheitsversorgung im letzten Pandemiejahr getätigt werden. Ein verstärkter Ausbau der Digitalisierung im Spitalsalltag sowie in der Datenerfassung und Aufbereitung, um die Betreuung von chronischen Patientinnen und Patienten zu verbessern wird auch von Ostermann als wichtig erachtet.

Patientenvertreterin Michaela Weigl von der Gesellschaft für MukoPolySaccharidosen (MPS) und Pro Rare Austria sieht in der Digitalisierung auch einen großen Nutzen, relativiert aber die Sicht: „Nicht immer sind digitale Tools die richtige Lösung.“ Weigl sieht bei deren Einsatz klare Grenzen, etwa bei der Physiotherapie oder bei der psychosozialen Begleitung. „Wenn Therapeutinnen und Therapeuten im Rahmen der Behandlung mit Patientinnen und Patienten physisch interagieren müssen, stößt die Telemedizin an ihre Grenzen“, erklärt Weigl. Bei seltenen Erkrankungen jedoch biete ein digitales Angebot mehr Möglichkeiten, um den Kontakt zu den behandelnden Ärztinnen und Ärzten zu halten. Wesentliche Grundlage dafür ist aber auch eine Verrechnungsmöglichkeit dieser telemedizinischen Leistungen damit diese auch vom medizinischen Fachpersonal angeboten werden kann. Unabhängig davon weist Weigl darauf hin, dass begleitende Therapien, Vorsorgeuntersuchungen und Jahreskontrollen nicht vernachlässigt werden sollten, da sonst Kollateralschäden drohen würden. Außerdem sei es wichtig, einheitliche Register mit einer standardisierten Dateneingabe zu forcieren, die vergleichbar sind und eine objektive Auswertbarkeit von Gesundheitsdaten ermöglichen. Hierbei könne die Digitalisierung einen entscheidenden Beitrag leisten.

Bei zu hohen Anforderungen könnten sich digitale Tools unter Umständen jedoch auch negativ auswirken, wenn sich etwa Betroffene permanent über ein digitales Tagebuch mit ihrer Behandlung auseinandersetzen müssen, obwohl sie aus psychohygienischen Gründen Distanz zu ihrer Erkrankung nötig hätten. „Ein sinnvolles sowie maßvolles Einsetzen dieser digitalen Tools ist geboten, damit weiterhin eine Trennlinie zwischen Mensch und Krankheit gezogen werden kann. Es soll kein Mehraufwand, sondern eine Entlastung von Betroffenen und Versorgern erreicht werden“, sagt Daniela Karall, stellvertretende Direktorin der Innsbrucker Unikinderklinik und Obfrau des Forums Seltene Krankheiten und wirft auch die Frage nach der vermeintlich leichten Anwendbarkeit auf. Denn nicht für alle Patientinnen und Patienten jeden Alters sei die Handhabung von Gesundheitsapps gleichermaßen barrierefrei. Als wesentliche Grundlage um solche digitalen Tools sinnvoll einsetzen zu können, wird daher weiterhin der persönliche (Erst-)Kontakt zum medizinischen Fachpersonal gesehen, insbesondere für die Diagnosestellung. So konnten Betroffene ohne Diagnose in den letzten Monaten nicht adäquat versorgt werden.

Die Errichtung europäischer Netzwerke aus speziellen Expertisezentren soll dazu beitragen, Patientinnen und Patienten mit seltenen Erkrankungen noch gezielter zu versorgen. Doch COVID-19 hat diesbezüglich eine enorme Bremsspur hinterlassen. Das liegt laut Till Voigtländer, Leiter des nationalen Büros zur Umsetzung und Weiterentwicklung des Nationalen Aktionsplans für seltene Erkrankungen, daran, dass „unser System nicht auf diese Pandemie vorbereitet war. Das Gesundheitsministerium und auch aussichtsreiche Kandidatinnen und Kandidaten für Expertisezentren waren durch die Ausnahmesituation stark überlastet. Das Designationsverfahren dieser Zentren hat sich dadurch um viele Monate verzögert.“ Unabhängig davon ist Voigtländer jedoch überzeugt, dass COVID-19 der virtuellen Medizin und Forschung einen markanten Schub beschert habe, der unbedingt im Sinne der Patientinnen und Patienten mitgenommen werden sollte. COVID-19 hat wie ein Brennglas Probleme offengelegt. Die Erkenntnisse hinsichtlich sinnvoller Nutzung von Telemedizin, strukturierter Datenaufbereitung und Vernetzung sollten auch in den nationalen Aktionsplan für seltene Erkrankungen integriert werden.

Dem pflichtet auch Sylvia Nanz, stellvertretende Vorsitzende des Standing Committee Rare Diseases der PHARMIG und Medical Director bei Pfizer Austria Corporation GmbH, bei: „Je digitaler eine Studie im Rahmen klinischer Forschung aufgesetzt ist, desto effizienter und schneller kann man sie fortführen und auswerten. Das verleiht der Forschung Geschwindigkeit und sollte in Zukunft beibehalten werden, um Patientinnen und Patienten noch rascher mit innovativen Therapien versorgen zu können.“ Dennoch stellt Nanz mit Blick auf die Forschungsgeschwindigkeit bei COVID-19 klar, dass dies nicht automatisch auch für seltene Erkrankungen gelte: „COVID-19 ist eine Ausnahmesituation. Es ist undenkbar, dieses Tempo bei der Forschung und Entwicklung für andere Erkrankungen zu wiederholen. Gleichzeitig wurde offensichtlich, welchen wesentlichen Beitrag Digitalisierung, insbesondere die gezielte und datenschutzkonforme Auswertung von Gesundheitsdaten leisten können. Gerade hier, beim Ausbau und der Vernetzung von Datenbanken haben wir in Österreich großen Nachholbedarf. Und wenn uns die Pandemie eines gelehrt hat, dann, dass sich vieles erreichen lässt, wenn man gemeinsam an einem Strang zieht.“

Der Rare Diseases Dialog der PHARMIG ACADEMY, moderiert von ORF-Redakteur Tarek Leitner, fand im Mai mit 250 Teilnehmenden statt.

Ein kurzer Film über den 9. Rare Diseases Dialog der PHARMIG ACADEMY ist hier abrufbar.

Über die PHARMIG ACADEMY:

Die PHARMIG ACADEMY ist das Aus- und Weiterbildungsinstitut der Pharmig, des Verbands der pharmazeutischen Industrie Österreichs. Sie bietet Seminare, Lehrgänge und Trainings zu allen Themen des Gesundheitswesens. Das Angebot orientiert sich an aktuellen Entwicklungen und richtet sich an alle, die Interesse am Gesundheitsbereich haben bzw. darin tätig sind. Das Format des Rare Diseases Dialog bietet allen Betroffenen, Interessierten und relevanten Akteuren eine offene Diskussionsplattform zu aktuellen Themen im Bereich der seltenen Erkrankungen.

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