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LISAvienna: MDR / IVDR versus FDA – Sicherheitsgarant versus Innovationstreiber?

Im Rahmen der LISAvienna Regulatory Konferenz für Medizinprodukte und In-vitro Diagnostika am 13.10.2022 wurde in einer Podiumsdiskussion die Frage „MDR / IVDR versus FDA – Sicherheitsgarant versus Innovationstreiber?“ beleuchtet. Wir fassen für Sie Eckpunkte der diskutierten Inhalte und eine Einschätzung aus unterschiedlichen Perspektiven zusammen.

Martin Schmid, en.co.tec, betonte, dass die aktuelle Lage besonders für Start-ups schwierig sei. In der EU wird viel Wert auf die Sicherheit der Produkte gelegt, was an sich begrüßenswert ist. Allerdings entstanden durch die veränderten Anforderungen signifikante Kapazitätsengpässe bei den Unternehmen und den Benannten Stellen – die Dauer der Zulassungsprozesse und das erforderliche Wissen dürfen nicht unterschätzt werden. Dass die rechtlichen Rahmenbedingungen per se Innovationen blockieren würden, findet Schmid nicht. Allerdings gilt es, sich rechtzeitig und im Detail mit den Anforderungen auseinanderzusetzen und der Aufwand zur Umsetzung der notwendigen Arbeiten dürfe nicht unterschätzt werden. Für einen realistischen Zeitplan müssen nicht nur die unternehmenseigenen Prozesse, sondern auch die knappen Kapazitäten bei den Benannten Stellen einkalkuliert werden. Ansonsten ist für Martin Schmid die Rechtssicherheit, die die FDA für den US-Markt bieten kann, ein klarer Vorteil im Vergleich zum System in der EU. Er sprach sich dafür aus, die Planbarkeit im System in der EU zu erhöhen und Verantwortlichkeiten noch klarer zu regeln als bisher. Zielführend könnte sein, einen Diskussionsprozess über den Aufbau einer zentralen Instanz zu starten, die bei Unklarheiten oder Unstimmigkeiten EU-weit für eine einheitliche und rechtsverbindliche Interpretation der Verordnungen sorgt und über die viel schneller Rechtssicherheit in der EU hergestellt werden kann als es derzeit über den EuGH bzw. nationale "Competent Authorities" möglich ist.

Meinrad Guggenbichler von der Benannten Stelle mdc medical device certification GmbH berichtete, dass auch in der jetzigen Lage immer noch Unternehmen ohne vollständiger Technischer Dokumentation und mit fehlenden klinischen Daten auf Benannte Stellen mit der Erwartung zukommen, innerhalb kürzester Zeit eine Bescheinigung nach MDR ausgestellt zu bekommen. Das sei nicht möglich. Die Nachweise zur Erfüllung der für die Zertifizierung notwendigen regulatorischen Anforderungen sind ein wesentlicher Bestandteil der Produktentwicklung und müssen, gemeinsam mit der Klinischen (Leistungs-)Bewertung rechtzeitig geplant werden, um einen erfolgreichen Marktzugang gewährleisten zu können. Da über 20.000 Zertifikate bis 2024 auslaufen, aber nur etwa 5.000 MDR Zertifikate bisher ausgestellt wurden, sei zu erwarten, dass sich die Dauer für Zulassungsprozesse bis zum Ende der Übergangsfristen noch weiter verlängern wird. Die Zahl der Benannten Stellen für MDR liege bei 33 und die für IVDR bei 7, wobei diese Stellen schon ca. 80 % der Gesamtkapazitäten darstellen dürften. Durch die noch offenen Anträge auf Benennung wird somit nur noch eine geringe Kapazitätszunahme erwartet. Entsprechend werden auch nach Abschluss der Benennungsprozesse die Kapazitäten für die Bearbeitung der Anträge voraussichtlich weiterhin nicht ausreichen. Im Hinterkopf behalten solle man außerdem, dass viele Hersteller derzeit noch mit Testballons bei den MDR Zertifikaten arbeiten, um zu prüfen, ob ihre Herangehensweise an die Technische Dokumentation zu den Anforderungen der Benannten Stellen passt. Erst wenn die Details geklärt sind, will diese Gruppe die Dokumente für ihre weiteren Produkte finalisieren. Das sei zwar prinzipiell eine nachvollziehbare Strategie, aber so laufe einem die Zeit noch schneller davon.

Philipp Lindinger, AUSTROMED, verwies auf Umfragen, laut denen aufgrund von MDR und IVDR mehr als die Hälfte der Unternehmen in Europa ihr Produktportfolio um mindestens 20% reduzieren werden, bei sogenannten Bestandsprodukten (legacy devices) sind sogar bis zu 30% zu befürchten. Der Kapazitätsengpass bei den Benannten Stellen sei lange bekannt und MDR und IVDR hinsichtlich der Details zur Umsetzung nicht zu Ende gedacht. Aktuell würden sprichwörtlich nur Brände gelöscht und zu wenig an den nötigen inhaltlichen Verbesserungen der Regularien gearbeitet, Innovationen sind derzeit kaum realisierbar. Die Verordnungen „aufzuschnüren“ und bei den Details nachzubessern sei aus Branchensicht unvermeidbar. Besonders bei der Bestandsprodukten gäbe es Handlungsbedarf. Auch diese müssen neu zertifiziert werden, um weiter am Markt verfügbar zu bleiben. Die Kapazitäten der Benannten Stellen reichen dafür jedoch nicht aus bzw. würde dieser aufwändige, teure Prozess nur für Produkte gestartet, für die das finanziell darstellbar sei – das sei besonders schwierig, wenn Produkte zwar für bestimmte Einsatzbereiche zentral sind, diese aber vergleichsweise selten zu versorgen sind. Philipp Lindinger ist davon überzeugt, dass man nicht daran vorbei kommen wird, MDR und IVDR zu „reparieren“, Fristen anzupassen und idealerweise ein Fast-Track-Verfahren für Bestandsprodukte einzuführen. Besonderes die Nachfrage vom Gesundheitssektor nach bewährten, sicheren Produkten mit einem klaren Nutzen für die Patientinnen und Patienten müsse weiterhin zuverlässig bedient werden können. Damit das rechtlich abgesichert erfolgen kann, seien alle Beteiligten gefordert, so rasch wie möglich neue, tragfähige Lösungswege zu erarbeiten.

Cornelia Luban, Qserve Group, ortet einen gewissen Trend dazu, Medizinprodukte und In-vitro Diagnostika zuerst in den USA und erst später in Europa auf den Markt zu bringen. Sie gab zu bedenken, dass die Anforderungen und Prozesse der FDA nicht einfacher seien als die, die für die CE-Zertifizierung über die Benannten Stellen in der EU durchlaufen werden müssen – sie seien allerdings klarer formuliert und würden schneller ablaufen. Außerdem biete die FDA Rechtssicherheit und verfüge auf Behördenseite über die nötige Manpower. Cornelia Luban betonte, dass bei der FDA in den USA die Versorgung des eigenen Marktes mit den nötigen Medizinprodukten oberste Priorität habe – entsprechend werde auch agiert, durchaus unter Ausschöpfung von Flexibilitäten, die in der EU nicht vorstellbar seien. Aktuell müsse man mit rund 6 Monaten für eine US-Zulassung rechnen. Das könne in der EU durchaus 1,5 Jahre oder länger dauern – auch dann, wenn es um die Rezertifizierung von Produkten geht, die bereits lange am Markt sind und bisher keinen Sicherheitsbedenken unterlagen. Das sogenannt „Grandfathering“ spiele in den USA eine wichtige Rolle und sorge dafür, dass etablierte, sichere Produkte auch weiterhin verfügbar bleiben. Etwas derartiges sei in Europa derzeit nicht vorgesehen. Zu bedenken wäre außerdem, dass das CE-Zeichen bisher oft als Basis für Zulassungsprozesse in Ländern außerhalb der EU herangezogen werde. Am Zertifizierungsprozess für die EU hängen damit auch viele Märkte in anderen Staaten, auch in Asien oder Afrika.

Michael Forisch, mySugr und Roche, berichtete von seinen ersten Erfahrungen mit der FDA im Jahr 2019 in Washington. Sieben teilweise uniformierte Auditoren seien damals involviert gewesen, was für mySugr als kleines österreichisches Unternehmen sehr beeindruckend gewesen wäre. Die drei Tage dauernden Gespräche folgten strikten Abläufen, die Fragen seien so formuliert gewesen, dass man nicht erahnen konnte, in welche Richtung das Gegenüber dachte. Zu dieser Zeit war es seiner Ansicht nach einfacher, in Europa auf den Markt zu kommen als in den USA. Die FDA sei auf sichere Produkte und schnelle Zulassungsprozesse fokussiert, damit die US-Bevölkerung diese Produkte rasch nutzen kann. Die Pandemie führte jedoch auch hier zu Verzögerungen bei den Timelines. Forisch begrüßt die klaren Eskalationsstufen in den USA, über die Entscheidungen beeinsprucht und neu verhandelt werden können. Seiner Einschätzung nach habe die FDA insgesamt mehr Kapazitäten für Bewertungsprozesse als die vergleichbaren Stellen in der EU. Es gäbe in der FDA außerdem mehr Personen, die sich intensiv mit Software als Medizinprodukte auseinandersetzen würden und die dazu große Expertise aufgebaut hätten. Das hänge auch damit zusammen, dass sich die FDA in regelmäßig stattfindenden Konsultationsprozessen von den Unternehmen über Zukunftstrends und neue Entwicklungen informieren lassen würde, um sich entsprechend vorbereiten zu können. Michael Forisch erinnerte daran, dass lange bekannt war, wie die neuen regulatorischen Anforderungen in der EU aussehen werden und man sich gut vorbereiten konnte. Insgesamt solle man sich nicht entmutigen lassen, sondern sich auf die Umsetzung konzentrieren. Anstatt nur über die Herausforderungen zu diskutieren oder darauf zu hoffen, dass sie morgen nicht mehr da sein würden, sei es viel besser, aktiv zu werden. Gleichzeitig ermutigte er zum Gespräch mit den Benannten Stellen und den Behörden und dazu, Grauzonen gemeinsam konstruktiv zu gestalten – immer mit Blick auf die nötige Sicherheit der Produkte. Aktuell würden noch einige wichtige Interpretationshilfen in der EU fehlen.

Markus Wagner, externer Auditor bei TÜV Süd, betonte, dass es auch bei Medizinprodukten und In-vitro Diagnostika keine 100%ige Sicherheit gibt, dass ein gewisses Restrisiko immer besteht und man Betrug niemals gänzlich verhindern kann. Er ist zuversichtlich, dass die aktuellen Herausforderungen rund um MDR und IVDR in einigen Jahren bewältigt sein werden. Es werde viel getan, um die nötigen Kapazitäten bei den Benannten Stellen zu schaffen und um derzeit noch fehlende Werkzeuge wie Datenbanken sukzessive nachzuziehen. Davon abgesehen habe es auch bei der Einführung der MDD Anlaufschwierigkeiten gegeben und die FDA bot in der Vergangenheit durchaus auch Anlass zur Kritik und musste nachschärfen, um das gewünscht Ausmaß an Produktverfügbarkeit in den USA sicherzustellen. In der EU werde man mit den neu eingeführten Regularien langfristig kein Problem haben, aber man werde da und dort noch nachjustieren müssen. Das sei notwendig, aber machbar. Davon abgesehen ortet Wagner verstärkten Diskussionsbedarf bei KI-basierten Lösungen, da Zulassungsprozesse fertige Medizinprodukte voraussetzen, was sich mit kontinuierlichem Dazulernen und fortlaufender Veränderung schwer vereinbaren lassen würde. Hier braucht es Strategien, um mit dem kontinuierlichen Datenfluss und fortlaufenden Lernprozessen konstruktiv umzugehen – möglicherweise eignen sich regelmäßig neu ausgerollte Versionen. Er ermutigte die Life Sciences Community jedenfalls dazu, sich frühzeitig mit dem Vorschlag für den EU AI Act auseinanderzusetzen.

Sascha Wettmarshausen, VDGH, erwartet, dass sich Teile der MDR Fristen nochmals nach hinten verschieben werden. Er hielt fest, dass das Fachpublikum mit Spannung auf die Benennung von mdc für IVDR warte. Das sei extrem wichtig, weil gerade viele KMUs bisher dort waren. Im Gegensatz zur MDR käme die IVDR einer Revolution im In-vitro Diagnostika Bereich gleich und sei mit sehr vielen neuen Aufgaben verbunden. Wettmarshausen erinnerte daran, dass es in der EU anders als in den USA mit der FDA keine Stelle gibt, die klar die Gesamtverantwortung für das System trägt und als zentraler Ansprechpartner dient. Es sollte diskutiert werden, ob eine Ergänzung des Systems nicht von Vorteil wäre. Insgesamt seien die Ziele von MDR und IVDR klar und begrüßenswert. Sascha Wettmarshausen schloss mit einem Bonmot der ehemaligen deutschen Bundeskanzlerin Angela Merkel: „Wir schaffen das!“ und ergänzte schmunzelnd, dass man als Expertin oder Experte im Regulatory Bereich wohl auch in zehn Jahren nicht arbeitslos sein werde.

Wir danken unseren Gästen am Podium für ihre Einsichten und freuen uns über die Bereitschaft zur Fortsetzung des Dialogs. Auch LISAvienna ist zuversichtlich, dass es gemeinsam gelingen wird, die Details bei den rechtlichen Rahmenbedingungen so weiterzuentwickeln, dass eine gute Balance zwischen Sicherheit und Verfügbarkeit von Medizinprodukten und In-vitro Diagnostika erzielt wird. Dass so rasch wie möglich daran zu arbeiten ist und vorhandenes Know-how zu den Prozessen und Handlungsspielräumen anderer Länder konstruktiv genutzt werden sollte, steht für uns außer Zweifel.

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