Ein Team um den Neurobiologen Simon Rumpel am Wiener Forschungsinstitut für Molekulare Pathologie (IMP) verfolgt mit neuartigen mikroskopischen Techniken am lebenden Gehirn, wie sich Nervenzellen beim Lernen und Erinnern verhalten. Das US-Wissenschaftsjournal PNAS berichtet diese Woche über die Erkenntnisse.
Die meisten unserer Verhaltensweisen – und damit auch unsere Persönlichkeit – werden durch vorhergehende Erfahrungen beeinflusst und gestaltet. Diese Erfahrungen abzuspeichern und später darauf zurückgreifen zu können, ist daher eine der grundlegenden Hirnfunktionen höherer Organismen. Die derzeitige Modellvorstellung der Neurowissenschaft geht davon aus, dass das Erlebte die plastischen Verbindungen zwischen den Nervenzellen – die Synapsen – verändert und dass diese Veränderungen als dauerhafte Gedächtnisspur im Gehirn erhalten bleiben.
Neurobiologen um Simon Rumpel und Kaja Moczulska gingen am IMP der Frage nach, was mit den synaptischen Verbindungen zwischen Nervenzellen passiert, wenn wir etwas lernen und wenn wir uns erinnern. Möglich wurde der experimentelle Ansatz durch die Entwicklung der Zwei-Photonenmikroskopie. Dieses bildgebende Verfahren erlaubt es, kleinste Strukturen (synaptische Verbindungen sind wenige tausendstel Millimeter groß) im lebenden Gehirn zu beobachten. Dabei ist es möglich, ein und dieselbe Nervenzelle mit ihren Fortsätzen wieder und wieder zu analysieren.
Beim Lernen sprießen neue Synapsen
Die IMP-Forscher konnten auf diese Weise einzelne Nervenzellen im Gehirn von Mäusen über mehrere Wochen hinweg beobachten. Sie konzentrierten sich dabei auf die dornenartigen Vorwölbungen an den Fortsätzen, die für erregende Synapsen charakteristisch sind. Dieser Ansatz wurde mit Verhaltensversuchen kombiniert, bei denen die Tiere auf Töne klassisch konditioniert wurden – ein Lernverfahren, das bereits vor hundert Jahren von Pavlov eingeführt wurde. In der Hörrinde des Gehirns führte die Lernerfahrung zur vermehrten Neubildung von synaptischen Verbindungen. Ein Teil davon blieb langfristig bestehen – ein Hinweis also auf eine neu angelegte Gedächtnisspur und die Bestätigung einer wichtigen Vorhersage des derzeit gültigen Modells.
Neben den plastischen Veränderungen beim Lernen interessierte die Wissenschaftler besonders auch der Vorgang des Erinnerns. Frühere Arbeiten hatten gezeigt, dass beim Abrufen der Erinnerung ähnliche molekulare Prozesse ablaufen wie bei der Gedächtnisbildung selbst. Dies wurde dahingehend interpretiert, dass die Gedächtnisspur bei jeder Erinnerung umgebaut und neu geschrieben wird.
Erinnern lässt Synapsen unverändert
Weitere Experimente am IMP sollten also klären, inwiefern das Abrufen des Gedächtnisses die synaptischen Verbindungen beeinflusst. Dazu bekamen die Mäuse den konditionierten Ton nach einem längeren Zeitraum wieder zu hören, während Nervenzellen in der Hörrinde beobachtet wurden. Es zeigte sich, dass einige molekulare Prozesse beim Erinnern denen bei der Bildung des Gedächtnisses durchaus ähnlich waren, die sichtbare Struktur der synaptischen Verbindungen jedoch unverändert blieb.
Dies deutet darauf hin, dass die molekularen Vorgänge, die bei der Bildung und beim Abruf des Gedächtnisses beobachtet werden, nicht notwendigerweise Veränderungen widerspiegeln. Sie könnten vielmehr Ausdruck der Stabilisierung von kürzlich veränderten oder erfolgreich abgerufenen synaptischen Verbindungen sein.
Die Erforschung der Prozesse bei der Bildung und beim Abruf von Gedächtnisinhalten dient in erster Linie dem elementaren Wissensgewinn. Die Erkenntnisse helfen aber auch, Erkrankungen des Nervensystems zu verstehen, die primär das Gedächtnis betreffen. Im weitesten Sinn könnten die molekularen Vorgänge bei der Erinnerung eine Grundlage liefern, die für die Behandlung schwer traumatisierter Patienten von Interesse ist.
Über das IMP
Das Forschungsinstitut für Molekulare Pathologie betreibt in Wien biomedizinische Grundlagenforschung und wird dabei maßgeblich von Boehringer Ingelheim unterstützt. Mehr als 200 ForscherInnen aus über 30 Nationen widmen sich der Aufklärung grundlegender molekularer und zellulärer Vorgänge, um komplexe biologische Phänomene im Detail zu verstehen und Krankheitsmechanismen zu entschlüsseln.