Anhaltender zellulärer Stress, der durch Störungen des zellulären Normalzustands verursacht wird, beeinträchtigt die Funktion und Lebensdauer von Zellen. Zellulärer Stress kann beispielsweise entstehen, wenn Ribosomen bei der Bildung von Proteinen aus fehlerhaften mRNAs zusammenstoßen. Dadurch werden die Zellen mit unfertigen und fehlerhaft gebildeten Proteinprodukten belastet, die toxische Proteinaggregate bilden. Bei zellulärem Stress können Zellen auf ein ganzes Arsenal von Qualitätskontrollmechanismen zurückgreifen, um den zellulären Normalzustand wiederherzustellen. Zellen, die im Endoplasmatischen Retikulum (ER), dem zellulären Zentrum für Proteinsynthese und -transport, längerem Stress ausgesetzt sind, initiieren eine Art ER-spezifische Autophagie ein, die so genannte ‚ER-Phagie‘, um das beschädigte ER selektiv zu entfernen. Wenn Ribosomen an der Membran des ER kollidieren, arbeitet ein weiterer Qualitätskontrollmechanismus, ‚UFMylation‘ genannt, mit der ER-Phagie zusammen, um unvollständig gebildete Proteine von der ER-Membran zu entfernen. UFMylation ist ein rätselhafter Qualitätskontrollmechanismus, dessen Funktion noch entschlüsselt werden muss.
Ein Forscherteam des Vienna BioCenter hat nun einen uralten molekularen Schalter entdeckt, der die ER-Phagie reguliert. Eine Kombination aus Evolutionsbiologie und mechanistischen Experimenten zeigt, dass die Konkurrenz zwischen zwei Ubiquitin-ähnlichen Molekülen, UFM1 und ATG8, einen molekularen Schalter im Hauptregulator C53 auslöst und damit die ER-Phagie einleitet.
UFMylation und ER-Phagie: Ähnlichkeiten und Unterschiede schaffen die Verbindung
„Unsere früheren Arbeiten deuteten darauf hin, dass C53 die beiden Qualitätskontrollmechanismen, ER-Phagie und UFMylation, miteinander verbinden könnte. Die molekulare Natur dieser Verbindung blieb jedoch unklar“, sagt Yasin Dagdas, Co-Autor und Gruppenleiter am GMI. In einer Arbeit, die 2020 veröffentlicht wurde, zeigten die WissenschaftlerInnen, dass C53 mit dem Protein ATG8, einem Ubiquitin-ähnlichen Akteur im Autophagie-Weg, über sogenannte ‚nicht-kanonische ATG8 Interacting Motif‘ (AIM)-Sequenzen auf dem C53-Molekül interagiert. Diese nicht-kanonischen AIMs nannten die ForscherInnen ‚shuffled AIMs‘ (sAIMs). Sie zeigten auch, dass UFM1, das Ubiquitin-ähnliche Molekül, das als chemische Modifikation über den UFMylationsweg an Proteinsubstrate gebunden wird, mit ATG8 um die Bindung von C53 konkurriert. Das C53-Molekül enthält jedoch drei sAIM-Motive und ein kanonisches AIM-Motiv (cAIM). „Mit Hilfe der Kernspinresonanzspektroskopie konnten wir zeigen, dass sAIM1 und sAIM2 die bevorzugten Bindungsmotive von UFM1 auf C53 sind. ATG8 hingegen zeigte eine deutlich höhere Präferenz für das cAIM-Motiv auf C53, wie es für eine kanonische Bindungssequenz zu erwarten ist. Dennoch interagierte ATG8 auch mit sAIM1 und sAIM2, wenn auch mit geringerer Affinität“, sagt Elif Karagöz, Co-Autorin und Gruppenleiterin an den Max Perutz Labs.
Ein Eingriff in die Bindung verschiebt das Gleichgewicht zwischen den QC-Mechanismen
Nachdem das Forschungsteam die Bindungspräferenzen von UFM1 und ATG8 auf C53 aufgedeckt hatte, versuchten die WissenschaftlerInnen deren Funktion zu testen, indem sie die sAIM-Motive in C53 durch kanonische cAIM-Sequenzen ersetzten. Durch diese genetischen Veränderungen wurde die Bindungsaffinität von ATG8 an C53 erhöht und die Bindung von UFM1 verringert. Dies führte zu einer konstanten Aktivierung des C53-Autophagie-Weges und sensibilisierte die verwendete Modellpflanze (Arabidopsis thaliana) stark für ER-Stress. Damit konnte das Team zeigen, dass sAIMs für die Regulation der C53-vermittelten ER-Phagie und damit für die ER-Stresstoleranz essentiell sind.
UFMylation ist in Eukaryoten stark konserviert
Das Team analysierte den evolutionären Weg von C53, sAIMs und UFMylationskomponenten in Zusammenarbeit mit der Forschungsgruppe von Thomas A. Richards an der Universität Oxford in England. Sie wiesen nach, dass die C53-vermittelte Autophagie bei Eukaryoten konserviert ist und dass C53 sich zusammen mit dem UFMylationsweg entwickelt hat. Molekulare Überreste oder das Vorhandensein verwandter Proteine deuteten darauf hin, dass Pilze, einige Algen und einige eukaryotische Parasiten UFMylation und/oder C53 sekundär verloren haben. „Unsere Ergebnisse zeigen, dass C53 sehr stark mit der UFMylation verbunden ist, was auf eine hochkonservierte funktionelle Verbindung zwischen den beiden hindeutet. Dies gilt insbesondere für die sAIMs: Bei Spezies, die UFM1 verloren haben, hat auch ihr C53 seine sAIMs verloren“, sagt Dagdas.
Mit Hilfe des Labors von Silvia Ramundo am GMI gingen die ForscherInnen noch einen Schritt weiter und wiesen nach, dass die einzellige Alge Chlamydomonas reinhardtii über einen funktionellen UFMylationsweg verfügt. Diese Entdeckung widerlegt frühere Behauptungen, dass die UFMylation mit der Evolution der Vielzelligkeit zusammenhängt.
Uralter molekularer Schalter steuert leistungsfähigen QC-Mechanismus
„Zusammenfassend deuten unsere Ergebnisse darauf hin, dass sich die nicht-kanonischen ATG8-Interaktionsmotive so entwickelt haben, dass sie es einem anderen Ubiquitin-ähnlichen Protein, UFM1, ermöglichen, an C53 zu binden und es unter homöostatischen Bedingungen inaktiv zu halten“, sagt Dagdas. Die ‚Homöostase‘ bezeichnet den zellulären Normalzustand. Dieser Inaktivierungsmechanismus ist wichtig, um zu verhindern, dass Zellen gesunde Zellbestandteile ‚auffressen‘ und über die Müllabfuhr entsorgen.
Da Pilze und einige eukaryotische Parasiten den UFMylationsweg zu einem späteren evolutionären Zeitpunkt verloren haben, denkt Dagdas, dass diese Organismen analoge Mechanismen entwickelt haben müssen, um die ER-Homöostase aufrechtzuerhalten. „Die Identifizierung solcher Mechanismen in Pilzen, aber auch in Parasiten, welche Pflanzen, Tiere und sogar den Menschen befallen, würde potenzielle Wege für die Entwicklung neuer Medikamente eröffnen“, schließt Dagdas.
Diese Studie wurde von Lorenzo Picchianti, Víctor Sánchez de Medina Hernández und Ni Zhan mitverfasst. Picchianti und Sánchez de Medina Hernández sind Doktoranden im Labor von Yasin Dagdas am GMI und sind Mitglieder des Vienna BioCenter PhD Program. Zhan ist Postdoktorandin im Labor von Dagdas und hat eine Marie Skłodowska-Curie Individual Fellowship.
Die biochemischen und biophysikalischen Daten wurden von Picchianti gewonnen. Die Daten der Kernspinresonanzspektroskopie wurden von Sánchez de Medina Hernández unter der Aufsicht von Elif Karagöz an den Max Perutz Labs, einem Joint Venture der Universität Wien und der Medizinischen Universität Wien, gewonnen. Zhan führte In-vivo-Experimente an Pflanzen durch. Die phylogenomischen Analysen wurden von Nicholas A. T. Irwin im Labor von Thomas A. Richards an der Universität Oxford, Großbritannien, durchgeführt.
Originalveröffentlichung:
Picchianti, Sánchez de Medina Hernández, Zhan, et al., "Shuffled ATG8 interacting motifs form an ancestral bridge between UFMylation and autophagy". EMBO Journal, 2023. DOI: https://doi.org/10.15252/embj.2022112053
Über das GMI:
Das Gregor Mendel Institut für Molekulare Pflanzenbiologie (GMI) betreibt Spitzenforschung in der molekularen Pflanzenbiologie. Das Institut ist im Besitz der Österreichischen Akademie der Wissenschaften (ÖAW) und wird von dieser finanziert. Die Forschungsthemen umfassen grundlegende Mechanismen der Epigenetik, Zellbiologie, Interaktionen zwischen Pflanzen und Krankheitserregern, Entwicklungsbiologie und Populationsgenetik. Das GMI befindet sich am Vienna BioCenter, einem der führenden Life-Science-Standorte in Europa.
Über die Max Perutz Labs
Die Max Perutz Labs sind ein Joint Venture der Universität Wien und der Medizinischen Universität Wien. Das Institut betreibt herausragende, international anerkannte Forschung und Lehre auf dem Gebiet der Molekularbiologie. Wissenschafter*innen der Max Perutz Labs erforschen grundlegende, mechanistische Prozesse in der Biomedizin und verbinden innovative Grundlagenforschung mit medizinisch relevanten Fragestellungen.
Die Max Perutz Labs sind Teil des Vienna BioCenter, einem führenden Hotspot der Lebenswissenschaften in Europa. Am Institut sind 44 Forschungsgruppen mit rund 400 Mitarbeiter*innen aus mehr als 40 Nationen tätig.