CeMM, LBI-RUD & MedUni Wien: Neu entdeckte seltene Erkrankung offenbart neue Erkenntnisse über Darmgesundheit

Eine einzelne Genveränderung führt bereits im Kindesalter zu schweren Darmerkrankungen – das hat ein internationales Forschungsteam unter gemeinsamer Leitung von Kaan Boztug am CeMM Forschungszentrum für Molekulare Medizin der Österreichischen Akademie der Wissenschaften und dem Ludwig Boltzmann Institute for Rare and Undiagnosed Diseases (LBI-RUD) sowie Michael Lenardo an den National Institutes of Health (NIH) Bethesda herausgefunden. Die neu entdeckte Mutation führt zum vollständigen Verlust des Proteins CD55, in Folge kommt es zu schweren Darmentzündungen, chronischen Durchfällen und Thrombosen. Die bei nur 11 Patienten diagnostizierte, bisher unbekannte Erkrankung konnte von den Forschern auf molekularer Ebene entschlüsselt werden, wodurch neue Erkenntnisse über das komplexe Gleichgewicht des Darms gewonnen und ein bereits zugelassener Wirkstoff für die Behandlung der betroffenen Patienten identifiziert wurden. Die Studie erschien jetzt im renommierten Fachjournal New England Journal of Medicine.

Genveränderungen, die zu einem Abbruch der Proteinproduktion führen, sind die schwerwiegendste Art von Mutationen. Hierbei schleicht sich ein genetisches Stoppsignal – das sogenannte „Stopcodon“ – in die Bauanleitung für ein Protein. Die damit hergestellten, unvollständigen Eiweißmoleküle sind für den Körper meist nutzlos und werden abgebaut, oft mit verheerenden Folgen für den Organismus. Eine solche Mutation fand sich auch bei einer jungen Patientin, die nach einer langen Odyssee von Krankenhausaufenthalten und erfolglosen Therapien von Kaan Boztug, Direktor des neu gegründeten LBI-RUD und mit dem CeMM und der Medizinischen Universität Wien verbundener Forschungsgruppenleiter, untersucht wurde. Die Ergebnisse der daraufhin erstellten Studie wurden im Fachmagazin New England Journal of Medicine veröffentlicht.

Das Mädchen litt seit frühester Kindheit unter verschiedenen Symptomen, darunter schwerste Durchfälle, wiederkehrende Infektionen, chronisch mangelhafte Nährstoffaufnahme und damit einhergehende Entwicklungsstörungen. Die Ursache für seinen Zustand blieb den behandelnden Ärzten ein Rätsel, bis Boztugs Team die Patientin genetisch untersuchte: Durch eine Exomsequenzierung – das Auslesen aller proteinproduzierenden Gene – fiel den WissenschaftlerInnen das Stopcodon mitten in der Gensequenz für das Protein CD55 auf, ein wichtiger Regulierungsfaktor für das angeborene Immunsystem. Ob sein Fehlen jedoch die alleinige Ursache für die beobachteten Erkrankungen war, ließ sich mit dem Einzelfall zunächst nicht zweifelsfrei feststellen.

Hier kam Kaan Boztug die internationale Vernetzung zu Hilfe: Michael Lenardo, ein langjähriger Kollaborationspartner an den US-amerikanischen National Institutes of Health (NIH), untersuchte zwei weitere Familien, in denen CD55-Mutationen auftraten und die Betroffenen ähnliche Symptome aufwiesen. Letztlich gelang es dem Forscherteam, insgesamt 11 Patienten ausfindig zu machen und die molekularen Mechanismen der Erkrankungen aufzuklären: Fehlt CD55, kann ein Teil des Komplementsystems – eine wichtige Komponente der angeborenen Immunabwehr – nicht mehr abgeschaltet werden. Darüber hinaus ist CD55 wichtig für die Produktion von IL-10, einem entzündungshemmenden Botenstoff von Immunzellen.

Beide Effekte verstärken sich auf fatale Weise: Das Überschießen des Komplementsystems fällt mit dem Ausbleiben der beruhigenden IL-10 Moleküle zusammen. In Folge kommt es zu schwersten Entzündungen des Darms, da hier eine ständige Stimulation des Immunsystems durch die Darmflora stattfindet und eine fein abgestimmte Regulierung besonders wichtig ist. Die Lymphgefäße des Darms werden dabei regelrecht durchlöchert, es kommt zum Austritt von Proteinen aus dem Blutplasma. Chronischer Eiweißverlust über den Darm zählt daher zu den Symptomen der CD55-Mutation, ebenso wie häufige Thrombosen.

Der weitere Verlauf der Studie, an der Rico Ardy, PhD-Student in Kaan Boztugs Labor, als geteilter Erstautor beteiligt war, ist typisch für die Erforschung seltener Erkrankungen: Nachdem die molekularen Auswirkungen des Gendefekts bekannt waren, konnte man sich auf die Suche nach einem Wirkstoff machen, der den Symptomen entgegenwirkt. Boztugs Team wurde fündig: Ein bereits zugelassenes Medikament, das eine verstärkte Aktivität des Komplementsystems bremst, kann auch bei fehlendem CD55 eingesetzt werden.

„Diese Erkrankung ist ein weiteres Beispiel für die Bedeutung der Erforschung seltener Erkrankungen“ betont Kaan Boztug. „Indem wir zunächst den molekularen Mechanismus der Erkrankung aufdecken, können wir gezielt zugelassene Wirkstoffe testen, die in diesen Mechanismus eingreifen. Darüber hinaus kommen durch die Untersuchung eines einzelnen Gendefekts meist auch neue Erkenntnisse über die Rolle des gesunden Gens ans Tageslicht“, so der Forscher.

Welche Rolle CD55 für die Darmgesundheit spielt, war bisher kaum erforscht. Ebenso waren die Gründe für chronischen Eiweißverlust, der auch bei einer Reihe anderer Erkrankungen auftritt, bisher unklar. Hier konnte die nun vorliegende Studie nun wichtige Erkenntnisse liefern, die das Verständnis des komplexen Gleichgewichts im Darm erweitern, aber auch für andere Erkrankungen relevant sein könnten.

Service: New England Journal of Medicine
„CD55 Deficiency, Early-Onset Protein-Losing Enteropathy and Thrombosis“
Ahmet Ozen*, William A. Comrie*, Rico Chandra Ardy*, Cecilia Domínguez Conde, Buket Dalgic, Ömer Faruk Beser, Aaron R. Morawski, Elif Karakoc-Aydiner, Engin Tutar, Safa Baris, Figen Özcay, Nina Kathrin Serwas, Yu Zhang, Helen F. Matthews, Stefania Pittaluga, Les R. Folio, Aysel Unlusoy Aksu, Joshua J. McElwee, Ana Krolo, Ayca Kiykim,  Zeren Baris, Meltem Gulsan, Ismail Ogulur, Scott B. Snapper, Roderick HJ Houwen, Helen L. Leavis, Deniz Ertem, Renate Kain, Sinan Sari, Tülay Erkan, Helen C. Su, Kaan Boztug# und Michael J. Lenardo# (* und #: gleiche Beteiligung); erschienen in New England Journal of Medicine am 28. Juni 2017. DOI: 10.1056/NEJMoa1615887

Die Studie wurde von den National Institutes of Health (NIH), dem Europäischem Forschungsrat (ERC), dem wissenschaftlichen und technologischen Forschungsrat der Türkei, der Österreichischen Akademie der Wissenschaften (ÖAW DOC Fellowship 24486), der American Diabetes Association und dem National Institute of General Medical Sciences (NIGMS) gefördert.


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