Uni Wien: Neuer Rekord: Über 100 ERC Grants für Wissenschafter*innen der Universität Wien

Vier weitere ERC Grants im Juli genehmigt

Historikerin Kerstin von Lingen und Neurobiologe Manuel Zimmer erhalten je einen ERC Advanced Grant, Philosoph Georg Schiemer einen ERC Consolidator Grant und Virologin Anouk Willemsen einen ERC Starting Grant für neue, innovative Forschungsprojekte. Mit dem Programm des Europäischen Forschungsrats (European Research Council, ERC) soll grundlagenorientierte Pionierforschung mit hohem Innovationspotenzial ermöglicht und vorangetrieben werden. Insgesamt gingen damit bisher 102 ERC Grants an die Universität Wien. Ein neuer österreichischer Rekord.

"Wir freuen uns über jeden eingeworbenen Grant", so Rektor Heinz W. Engl. "Die '100er Schallmauer' zu durchbrechen ist dennoch eine besondere Freude. Vor 11 Jahren, zum Beginn meiner Amtszeit, standen wir bei insgesamt 14 Grants." Die sehr kompetitiven ERC Grants sind ein wichtiger Indikator für die internationale Wettbewerbsfähigkeit der Universität Wien. Durch sie wird hochkarätige Forschung in unterschiedlichsten Disziplinen ermöglicht.

Die vier Forschungsprojekte und Wissenschafter*innen im Überblick: 

Globale Migrationsbewegungen und Neuansiedlungspraktiken verstehen

Während des Zweiten Weltkriegs und danach wurden Millionen von Menschen in Europa und Asien aus ihrer Heimat vertrieben. Es entwickelte sich eine neue internationale Ordnung nach 1945. In der historischen Forschung fehlt bislang ein Verständnis für die komplexen Praktiken der Neuansiedlungspolitik der UN und alliierter Staaten. Mithilfe von Archivquellen und digitalen Methoden wird das Forschungsteam unter der Leitung von Kerstin von Lingen vom Institut für Zeitgeschichte der Universität Wien diese Lücke füllen. Dabei werden die vielfältigen Erfahrungen einzelner Akteur*innen mit der großen Geschichte des humanitären Völkerrechts, Fragen des postimperialen Staatsaufbaus, der Staatsbürgerschaft und der Identitätsbildung verbunden.

Ziel der Forschung ist es, die Beantwortung der Frage voranzutreiben, wie Gesellschaften die enorme Aufgabe von Zwangsvertreibung und Neuansiedlung bewältigen können und die Frage der Integration gelöst werden kann: ein zentrales Moment für die Schaffung einer globalen Ordnung. Die innovative Untersuchung soll auch dazu beitragen, die heutige Welt mit ihren großen Flucht- und Migrationsbewegungen besser zu verstehen. Das Projekt "Global Resettlement Regimes: Ambivalent Lessons learned from the Postwar (1945-1951)" wird im Rahmen eines mit knapp 2,2 Millionen Euro dotierten ERC Advanced Grant gefördert.

Über Kerstin von Lingen

Kerstin von Lingen ist Historikerin an der Universität Wien und dort seit 2019 Professorin für Zeitgeschichte. Zu ihren Forschungsschwerpunkten zählen Genozid- und Gewaltgeschichte, insbesondere der Holocaust, sowie Dekolonisierungsprozesse mit einem Schwerpunkt auf Asien. Gastprofessuren führten Von Lingen an die ULB Brüssel (2016) und nach Wien (2017), sowie im Rahmen eines Fellowships ans Lauterpacht Centre for International Law, Cambridge (2018). Weitere Stationen waren das Exzellenzcluster "Asia and Europe in a Global Context" und das Historische Seminar der Universität Heidelberg. Von Lingen war außerdem DFG Heisenberg Stipendiatin (2018) und Preisträgerin des Ernst-Otto Czempiel-Preises (2020).

Wie die Wende zum formalistischen Denken passierte

Die Entwicklung der Logik, der Grundlagen der Mathematik sowie der Wissenschaftstheorie in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts ist geprägt durch einen weitreichenden "formal turn". Dieser Wandel zeichnet sich in erster Linie aus durch einen geteilten Fokus auf formale Methoden sowie eine generelle, formalistische Auffassung dieser Disziplinen: So wurden beispielsweise unterschiedliche Theorien der Logik und Mathematik zu dieser Zeit erstmals als rein formale Systeme aufgefasst, die in strenger Abstraktion von Fragen des Inhalts, der semantischen Interpretation oder Bedeutung untersucht wurden. Der neu entstandene Formalismus ist darüber hinaus nicht nur aus historischer Perspektive relevant, sondern hat unser zeitgenössisches Verständnis dieser Wissenschaftsfelder maßgeblich geprägt.

In seinem ERC-gefördertem Forschungsprojekt wird der Philosoph Georg Schiemer eine erste interdisziplinäre und vergleichende Untersuchung der Wende zum formalistischen Denken im frühen 20. Jahrhundert durchführen. Der inhaltliche Schwerpunkt des Projekts wird dabei insbesondere auf der Philosophie des Logischen Empirismus, dem zeitgleich verlaufenden Grundlagenstreit in der Mathematik sowie auf Beiträgen zur mathematischen Logik zwischen 1900 und 1940 liegen. Das Projekt "The Formal Turn - The Emergence of Formalism in Twentieth-Century Thought" wird durch einen ERC Consolidator Grant gefördert, der mit knapp 2 Mio. Euro dotiert ist. 

Über Georg Schiemer

Georg Schiemer ist seit 2022 Professor für Formale Philosophie am Institut für Philosophie und ab Herbst 2022 Vorstand des Instituts Wiener Kreis an der Universität Wien. Nach Diplomstudien der Handelswissenschaften an der WU Wien und der Philosophie promovierte er 2010 in Philosophie an der Universität Wien. Schiemer war von 2011 bis 2013 (sowie von 2015 bis 2017) als Postdoktorand am Munich Center for Mathematical Philosophy an der LMU München tätig. Weitere Forschungsaufenthalte führten ihn an die Stanford University sowie an die University of Chicago. Im Jahr 2021 war er Gastprofessor an der Université Paris 1-Panthéon Sorbonne. Von 2017 bis 2022 leitete Schiemer das ERC Starting Grant Projekt "The Roots of Mathematical Structuralism" and der Universität Wien. In seiner Forschung beschäftigt er sich vorwiegend mit der Philosophie und Geschichte der Mathematik und modernen Logik, mit der Geschichte der analytischen Philosophie sowie mit formaler Wissenschaftstheorie.

Riesenviren und ihre Evolution besser verstehen

Riesenviren vermehren sich in Einzellern und zeichnen sich durch ihre enorme Größe, die der von Bakterien ähnelt, sowie durch ihre für Viren ungewöhnliche, genetische Ausstattung aus. In ihrem Forschungsprojekt wird Anouk Willemsen Laborexperimente und bioinformatische Ansätze kombinieren, um besser zu verstehen, wie Riesenviren ihre komplexen Genome erhalten haben. Sie wird dabei insbesondere die Rolle mobiler, genetischer Elemente untersuchen. Diese sollen helfen, die Evolutionsgeschichte dieser einzigartigen Virengruppe nachzuvollziehen. Das übergeordnete Ziel ist es, Einblicke in den molekularen Dialog zwischen Viren, Bakterien und ihren gemeinsamen Wirten zu gewinnen.

Anouks Willemsens ERC Starting Grant-Projekt "CHIMERA" ergänzt das Forschungsportfolio am Zentrum für Mikrobiologie und Umweltsystemwissenschaft (CMESS) der Universität Wien und wird mit knapp 1,5 Mio. Euro gefördert. Das Leitthema des 2019 gegründeten Zentrums ist die Erforschung des Mikrobioms (also der Gesamtheit aller Bakterien, Archaeen, einzelliger Eukaryoten, Pilze und Viren) in Medizin und Umwelt. Am Zentrum sind nunmehr acht ERC Grant-Forscher*innen der Universität Wien sowie vier der weltweit meistzitierten Forscher*innen im Rahmen des "Highly Cited Researchers"-Ranking angesiedelt.

Über Anouk Willemsen

Anouk Willemsen ist Virologin am Department für Mikrobiologie und Ökosystemforschung der Universität Wien. Ihr bereits zweites Marie Skłodowska-Curie Fellowship-Stipendium hat sie 2020 als Postdoc an das Zentrum für Mikrobiologie und Umweltsystemwissenschaft der Universität Wien geführt, wo sie sich zusammen mit der Arbeitsgruppe um Matthias Horn mit Riesenviren beschäftigt. Nach ihrem Studium in Utrecht (Niederlande) und Valencia (Spanien) promovierte Willemsen 2016 in Biotechnologie an der Universität Valencia. Danach forschte sie als Postdoc, u.a. im Rahmen eines Marie Skłodowska-Curie Fellowships, am Centre National De La Recherche Scientifique (CNRS) in Montpellier (France) zum Thema "The evolutionary history of oncogenic and non-oncogenic papillomaviruses". Anouk Willemsen hat ihre Karriere der Erforschung der Virusevolution gewidmet. Ihr Ziel ist es, unser Verständnis der viralen Genomorganisation sowie der Virus-Wirt-Interaktionen zu verbessern.

Wie verarbeitet das Gehirn sensorische Informationen, um Verhalten zu erzeugen?

Tiere nehmen die Außenwelt immer gleichzeitig mit ihren eigenen Handlungen wahr, und scheinen diese Informationsflüsse zu kombinieren. Eine neue und sehr überraschende Erkenntnis in den Neurowissenschaften ist, dass diese handlungsgekoppelte Wahrnehmung über das ganze Gehirn verteilt stattfindet. Doch was ist der Vorteil und die Funktion dieses Phänomens? Ein Team um den Neurobiologen Manuel Zimmer von der Universität Wien will genau dieses Rätsel mit Hilfe eines kleinen Fadenwurms (C. elegans) lösen.

Die Zimmer-Gruppe hat bereits Pionierarbeit geleistet und Techniken entwickelt, um die Aktivität aller Nervenzellen in Echtzeit zu messen, was zahlreiche Entdeckungen über Gehirnfunktionen ermöglicht hat. Im ERC-Projekt werden die Wissenschafter*innen nun neue Mikroskopie- und Computertechnologien entwickeln, um die Gehirnaktivität von völlig frei kriechenden Würmern zu messen und zu analysieren, die auf der Suche nach Nahrung natürliche Umgebungen erkunden und durchqueren. Angesichts der geringen Größe des Nervensystems des Wurms und der Möglichkeit, die Aktivität des Gehirns und das Verhalten bis ins kleinste Detail zu beobachten, werden die Forscher*innen in der Lage sein zu untersuchen und zu modellieren, wie ein Tier die Außenwelt wahrnimmt und diese Informationen im Zusammenhang mit seinen eigenen Verhaltensweisen verarbeitet. Zimmer und sein Team wollen dabei neue Hypothesen über die Funktion von Gehirn-Körper-Umwelt-Interaktionen formulieren, die dann in großen Tieren mit Gehirnen, die dem menschlichen Gehirn ähnlicher sind, getestet werden können. Das Projekt wird mit einem ERC Advanced Grant in der Höhe von 3,5 Mio. Euro gefördert.

Über Manuel Zimmer

Manuel Zimmer ist Universitätsprofessor für Neurobiologie am Department für Neurowissenschaften und Entwicklungsbiologie der Universität Wien. In den vergangenen Jahren baute er eine eigene Forschungsgruppe am Forschungsinstitut für Molekulare Pathologie in Wien auf. Seine aktuelle Forschung konzentriert sich etwa darauf, wie das Gehirn die sensorische Welt verarbeitet. Zuvor forschte Zimmer bei Cori Bargmann an der University of California, San Francisco, und der Rockefeller University, New York.  Frühere Stationen in seiner wissenschaftlichen Karriere waren außerdem am Skirball Institute of Biomolecular Medicine der New York University Medical School, am Europäischen Laboratorium für Molekularbiologie in Heidelberg (EMBL) und am Max-Planck-Institut für Neurobiologie in München. Mit diesen Ansätzen im winzigen Fadenwurm will er die Grundlagen neuronaler Berechnungen verstehen, die auf komplexere Gehirne einschließlich des Menschen verallgemeinert werden können.

Wissenschaftlicher Kontakt

Univ.-Prof. Dr. M.A. Kerstin von Lingen
Institut für Zeitgeschichte
1090 - Wien, Spitalgasse 2-4, Hof 6
+43-1-4277-41216
kerstin.von.lingen(at)univie.ac.at

Univ.-Prof. Mag. Mag. Dr. Georg Schiemer
Institut für Philosophie
Universität Wien
1010 - Wien, Universitätsstraße 7 (NIG)
+43-1-4277-46090
georg.schiemer(at)univie.ac.at

Dr. Anouk Willemsen
Department für Mikrobiologie und Ökosystemforschung
1030 - Wien, Djerassiplatz 1
anouk.willemsen(at)univie.ac.at

Univ.-Prof. Dr. Manuel Zimmer
Department für Neurowissenschaften und Entwicklungsbiologie
1030 - Wien, Djerassiplatz 1
+43-1-4277-56503
manuel.zimmer(at)univie.ac.at

Rückfragehinweis

Theresa Bittermann, BA
Media Relations, Universität Wien
1010 - Wien, Universitätsring 1
+43-1-4277-17541
theresa.bittermann(at)univie.ac.at

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