Im Zentrum der Untersuchungen des Forschungsteams unter der Leitung von Grégoire Courtine der EPFL Lausanne und Beteiligung von Karen Minassian vom Zentrum für Medizinische Physik und Biomedizinische Technik der MedUni Wien stand die Frage nach den zugrundeliegenden Mechanismen von erfolgreichen epiduralen Stimulationen bei schwerwiegenden Querschnittslähmungen. Darunter ist die elektrische Stimulation des Rückenmarks über implantierte Elektroden zu verstehen, die querschnittsgelähmten Patient:innen dazu verhelfen kann, durch intensives Training wieder eigenständig gehen zu lernen. Mit Hilfe spezieller bildgebender Verfahren erkannten die Forscher:innen, dass nach der Therapie der Glukosestoffwechsel und im Umkehrschluss die Aktivität im lumbalen Rückenmark – also jenem Teil des Rückenmarks, der die für das Gehen essenziellen neuronalen Netzwerke beherbergt – trotz erhöhter Mobilität drastisch reduziert war. Daraus schlossen die Wissenschafter:innen, dass durch die epidurale Stimulation neuroplastische Veränderungen im Rückenmark angestoßen worden waren, die schließlich zu einer spezifischeren Anregung von für das Gehen wichtigen Nervenverbänden führten.
Diese Hypothese wurde im Anschluss in präklinischen Experimenten bestätigt: Dabei erkannten die Wissenschafter:innen die besondere Relevanz einer bestimmten Klasse von Neuronen, die für die Koordination beim Gehen von entscheidender Wichtigkeit ist. Wurden diese Neurone genetisch ausgeschaltet, so hatte das im Tiermodell bei unverletztem Rückenmark kaum Einfluss auf die Gehfähigkeit. Bei Vorliegen einer Rückenmarksverletzung konnte jedoch auch mit epiduraler Stimulation und Training das Gehen nicht wiedererlernt werden. Wurde im Gegensatz nun diese Neuronenklasse direkt chemogenetisch angeregt, so konnten die Mäuse mit Rückenmarksverletzung nach erfolgtem Training sogar dann noch gehen, wenn die epidurale Stimulation ausgeschaltet wurde.
Nachweis in menschlichem Rückenmark steht aus
Im menschlichen Rückenmark muss die Existenz dieser Neuronenklasse erst noch nachgewiesen werden. „Dazu ist aktuell an der Medizinischen Universität Wien eine Studie unter Federführung des Zentrums für Medizinische Physik und Biomedizinische Technik sowie der Klinischen Abteilung für Neuropatholgie und Neurochemie der Universitätsklinik für Neurologie in Planung“, sagt Karen Minassian. Erste vielversprechende Pilotergebnisse liegen bereits vor. Insgesamt können diese Studien zu einem besseren Verständnis der neuralen Bewegungskontrolle auf Ebene des Rückenmarks und deren Veränderung nach Verletzungen beitragen. „Dieses Wissen bildet letztlich die Basis für die Entwicklung neuartiger Therapieansätze, um möglichst vielen Betroffenen zu einem selbständigeren Leben zu verhelfen“, verdeutlicht Karen Minassian die Relevanz der Forschungen.
Publikation: Nature
The neurons that restore walking after paralysis;
Claudia Kathe, Michael A. Skinnider, Thomas H. Hutson, Nicola Regazzi, Matthieu Gautier, Robin Demesmaeker, Salif Komi, Steven Ceto, Nicholas D. James, Newton Cho, Laetitia Baud, Katia Galan, Kaya J. E. Matson, Andreas Rowald, Kyungjin Kim, Ruijia Wang, Karen Minassian, John O. Prior, Leonie Asboth, Quentin Barraud, Stéphanie P. Lacour, Ariel J. Levine, Fabien Wagner, Jocelyne Bloch, Jordan W. Squair, Grégoire Courtine;
doi: 10.1038/s41586-022-05385-7