Diese Zellen sind lange Zeit eher als Kuriosität der Natur betrachtet worden“, sagt Georg Casari. Er spricht von menschlichen Zellen, die anders als im „Normalfall“ nur eine Kopie jedes Chromosoms enthalten. Man nennt diese Zellen „haploid“ – und davon leitet sich auch der Name des jungen Wiener Biotech-Unternehmens ab, das Casari leitet: Haplogen.
Für die Forschung sind diese haploiden Zellen jedenfalls ein wahrer Glücksfall: „Wir arbeiten mit einer Zelllinie, die jedes Gen nur einmal enthält“, erläutert Casari. Dadurch kann man Gene im Labor viel leichter abschalten als bisher und schauen, was dann passiert. Bei normalen Körperzellen gibt es 23 Chromosomen mit all ihren Genen in zweifacher Ausführung. Diese Kopien sind nicht zu 100 Prozent identisch, sondern weisen im Detail leichte Unterschiede auf – denn eine Hälfte der Gene stammt vom Vater, die andere von der Mutter. Wenn man Gene gezielt abschalten will, etwa um die Ursachen und Abläufe einer bestimmten Krankheit zu erforschen, dann muss man folglich beide Genkopien in einer Zelle treffen. Andernfalls ist das Gen der zweiten Kopie meist weiterhin aktiv.
Die besonderen Zellen, mit denen Haplogen arbeitet, wurden zufällig bei einem Krebspatienten in den USA entdeckt und von Forschern in Kultur genommen. Sie vermehren sich im Labor ausgezeichnet und bleiben dabei auch in ihrem „minimalistischen“ Zustand stabil.
Auf diese Zelllinie wurde Thijn Brummelkamp, Forscher am Zentrum für Molekulare Medizin (CeMM) der Akademie der Wissenschaften (ÖAW) in Wien, während seiner Forschertätigkeit am Whitehead Institute des MIT aufmerksam. Er entwickelte eine Technologie, mit der einzelne Gene in diesen Zellen effizient ausgeschaltet werden können. Die Arbeit mündete schließlich in die Gründung von Haplogen im Sommer 2010 in Wien.
Dieses Unternehmen nutzt die Technologie, um neue Angriffsstellen für Medikamente bei viralen Infektionen zu finden. „Die Viren benötigen bestimmte menschliche Genprodukte, um sich vermehren zu können“, erläutert Casari. Manche dieser sogenannten „Wirtsfaktoren“ sind aber für die attackierten Zellen nicht überlebenswichtig. Wenn man sie gezielt mit einem Medikament blockiert, dann kann man die Vermehrung der Viren hemmen, ohne dass dabei starke Nebenwirkungen auftreten.
Wirtsfaktoren
Bei diesem Wirkmechanismus sei zudem die Gefahr viel geringer, dass die Viren gegen ein Medikament resistent werden, ergänzt Casari. Das wird bei der Bekämpfung von Infektionskrankheiten zunehmend ein Problem: Die Erreger passen sich rasend schnell an gängige Medikamente an, die Forscher kommen kaum mit dem Nachschub an neuen Wirkstoffen mit neuen Wirkmechanismen nach.
In der Praxis beschäftigt sich Haplogen derzeit mit Picorna-Viren, die u.a. Schnupfen verursachen. Hier wurde ein solcher Wirtsfaktor gefunden – und in Kooperation mit dem CeMM auch ein Molekül, das die für den Virus essenzielle Angriffsstelle („Target“) im menschlichen Körper blockiert. Nun wird auf dieser Grundlage ein Medikament entwickelt.
Parallel dazu werden neue „Targets“ für andere von Viren ausgelöste Krankheiten gesucht. Ein wichtiges Hilfsmittel dafür lagert in einem unscheinbaren Behältnis im Biozentrum in der Wiener Dr.-Bohr-Gasse, wo Haplogen seit dem Frühjahr seinen Sitz hat: In flüssigem Stickstoff (bei minus 196 Grad) lagern über 4000 Zelllinien, bei denen jeweils eines der gut 20.000 menschlichen Gene ausgeschaltet ist. „Diese in Partnerschaft mit CeMM entwickelte Sammlung von Varianten einer menschlichen Ursprungszelle ist die weltgrößte“, sagt Casari stolz. „Wir wissen bei jeder Linie genau, wo welches Gen inaktiviert wurde.“ Diese Sammlung ist für Forscher, so auch jene des CeMM, eine unschätzbare Ressource, die Zellen werden in Zukunft an Labors in alle Welt verkauft.
Obwohl die Medikamentenentwicklung noch in einem relativ frühen Stadium ist, wurde dennoch bereits das Unternehmen (mit aktuell einem Dutzend Mitarbeitern) gegründet. „Wirtschaftliche Verwertung von Entdeckungen ist wichtig, sonst kommt ein Medikament nie an die Patienten“, sagt Casari. Wobei er betont, dass dabei auch Wertschöpfung in Österreich erzielt werde. Durch einen privaten Investor wurden rund 1,5 Millionen Euro in die Forschung investiert, dazu kamen Förderungen von der Wiener Technologieagentur ZIT und aus dem Seed-Programm der Austria Wirtschaftsservice (AWS). Ein Antrag bei der Forschungsförderungsgesellschaft (FFG) ist in Vorbereitung.
Für die nächsten Jahre sind, so schätzt Casari, weitere drei bis fünf Millionen Euro notwendig, man sei in Gesprächen mit möglichen Investoren. Und auch die Pharmaindustrie sei schon auf das Potenzial des Antivirusprogramms aufmerksam geworden.
Knock-Out
Lebewesen, bei denen einzelne Gene ausgeschaltet sind („Knock-outs“), sind aus der Forschung nicht mehr wegzudenken und Standard z. B. bei Mäusen, Hefe oder Fruchtfliegen.
Das Problem dabei: Spezifisch menschliche Krankheiten kann man an ihnen nicht gut studieren.
Das geht nun mithilfe von „haploiden“ Knock-out-Zellen, in denen menschliche Gene vollständig ausgeschaltet werden können. Das ermöglicht ein tieferes Verständnis z.B. von Infektionsvorgängen und die Entwicklung von Medikamenten.
("Die Presse", Print-Ausgabe, 04.11.2012)